Während Albumhörer einst ihre Schätze horteten wie Flaschen seltenen Weins, drehen die heutigen Konsumenten einfach nur den Wasserhahn auf. Streaming bedeutet eine Zäsur in unserem Musikhören, die philosophische Dimensionen hat.
Unsere Hörgewohnheiten und Hörgelegenheiten sind ständigen Veränderungen unterworfen. Man stelle sich vor: Noch vor 200 Jahren konnte man Musik nur hören, wenn leibhaftige Musiker mit ihren Musikinstrumenten physisch zugegen waren. Wer nicht in den städtischen oder höfischen Zentren der Kultur lebte, war daher auf Wandermusikanten oder seltene Gastspiele angewiesen. Es durfte sich glücklich schätzen, wer ein Ensemblestück von Mozart oder Beethoven in der originalen Instrumentierung erleben durfte. Mit großer Sicherheit hörte man dieses Stück nur ein einziges Mal im Leben. Als der alte Goethe einmal von einem Musikabend besonders bewegt war, wunderte er sich über die Macht, die die Klänge über ihn hatten. Er schrieb: „Zu einiger Erklärung sag ich mir: Du hast seit zwei Jahren und länger gar keine Musik gehört [...].“
Mit der mechanischen Tonaufzeichnung begann um 1900 ein neues Zeitalter des Musikhörens. Hausmusik und Blasmusik verloren schlagartig an Attraktivität, als sie sich mit den ständig verfügbaren Tonaufnahmen der Besten messen mussten. Schellackplatten eroberten den Globus für ein halbes Jahrhundert. Weil eine Seite der 78er-Scheibe nur drei bis vier Minuten Musik bot, passte sich die Musikproduktion dem Format an. Das Drei-Minuten-Stück wurde zum Standard der Musikindustrie – und blieb es bis heute. Umfangreichere Werke – vor allem klassische – hat man auf mehrere Platten verteilt, die dann zu einem „Album“ (ähnlich einem Fotoalbum) zusammengebunden wurden.
Erst durch die Langspielplatte mit 33 Umdrehungen befreite sich die Musikproduktion von der Drei-Minuten-Beschränkung. Weil die Vinyl-LP ein ganzes Schellack-Album ersetzen konnte, übertrug sich der Begriff „Album“ auf die 33er-Scheibe. Der Jazztrompeter Miles Davis sprach für viele, als er schrieb: „Ich war ganz schön erstaunt über die Möglichkeiten, die sich jetzt boten. Ich hatte diesen Drei-Minuten-Krampf bei den 78er-Platten sowieso längst satt. Für wirklich freie Improvisationen war da nie Raum; man musste möglichst schnell in sein Solo reinkommen, und dann war’s auch schon vorbei.“ Dank der LP konnten Jazzmusiker auch im Studio ein Solo so entwickeln, wie sie es auf der Bühne tun. Dank der LP konnten klassische Sinfonie- und Sonatensätze endlich am Stück gehört werden.
Die neue Längenvorgabe war das LP-Format: zweimal 20 Minuten. Rund sechs Drei-Minuten-Songs passten nun auf eine Seite – sechs Songs, die nacheinander erklangen. Das verlangte nach einer Dramaturgie, einer gezielten Anordnung der Stücke, einem Spannungsbogen. Produzenten und Musiker machten sich darüber viele Gedanken. Sollte ein Hit-Song am Anfang stehen? War es sinnvoll, dem ersten Stück ein schnelleres folgen zu lassen? Sollte das dritte, spätestens das vierte Stück eine Ballade sein? Bot die Reihenfolge genug Abwechslung in der Instrumentierung? Musste man auch auf die Tonarten der Songs achten, womöglich in der Stückabfolge dem Quintenzirkel folgen? – Die Dramaturgie einer LP-Seite wurde zu einer kleinen Wissenschaft.
Ihre eigentliche Bestimmung fand die Langspielplatte jenseits der Drei-Minuten-Songs. Klassik-Produzenten dachten darüber nach, welche Stücke des Repertoires sinnvollerweise zusammen auf ein Album sollten. Im modernen Jazz und progressiven Rock wurde das LP-Format zur Gestaltungshilfe. Wie verteilte man die Aufnahmen am besten auf die zwei Seiten? Fehlte da nicht als Ausklang der A-Seite noch ein kurzes Stück? Wie müsste es klingen? Ein Studiowerk wie John Coltranes „A Love Supreme“ mit seinen vier etwa gleich langen Teilen ist gezielt für die Langspielplatte konzipiert. Ein Jazz-Meilenstein wie Miles Davis’ „In A Silent Way“ wurde am Schneidetisch auf Albumlänge zurechtfrisiert. Im Classic Rock wurden „Longtracks“ für die Länge einer Plattenseite geplant: „Tarkus“ von Emerson Lake & Palmer oder „Supper’s Ready“ von Genesis.
Das Album brachte auf diese Weise auch eine besondere Spezies von Rezipienten hervor: die Albumhörer. Sie hörten anders als die Hit-Hörer und die Discogänger. Sie verstanden ein Album als ein Ganzes mit Entwicklung und Höhepunkten, eine Art Sinfonie oder Suite. Sie näherten sich dem Album wie einem Theaterstück, einem Film, einem Roman oder einer Ausstellung. Sie wurden zu Sammlern und Forschern. Und sie hörten mit größerem Spannungsbogen, nicht mehr in Drei-Minuten-Portionen. Diesem besonderen Erlebnis diente auch die optisch-haptische Gestaltung der Albumhülle. Die Cover-Kunst, die Fotografien, die Begleittexte, der Karton, die Innenhüllen, wie sich die Verpackung anfühlte, wie sie roch – das alles gehörte zur Erfahrung des Albums dazu. Ein Gesamtkunstwerk. Ein Rundum-Erlebnis der Fantasie. Es entstand ein persönliches, visuelles, literarisches Verhältnis zum Album. Die Auseinandersetzung mit dem Album als „Werk“ bot dem Hörer auch die Chance, die eigene Persönlichkeit, den eigenen Geschmack zu entwickeln. Kein Wunder, dass Vinyl heute eine kleine Renaissance erfährt. Albumcovers haben Signalwirkung, man kann sich mit ihnen identifizieren.
Als die Compact Disc die Langspielplatte ablöste, wurde die Sache komplizierter. Statt zweimal 20 Minuten bestand ein Album nun aus 50 bis 80 Minuten Musik am Stück. Für das klassische Repertoire war das ein Segen – die Länge klassischer Sinfonien hatte man bei der Erfindung der CD besonders im Blick. Für die Spannungskurve einer Jazz- oder Rockproduktion ist die CD eher zu lang – aber man muss sie ja nicht bis zum Rand füllen. Die Hörgewohnheiten haben sich durch die CD jedenfalls verändert. Dass man die einzelnen Tracks mühelos direkt anwählen, einfach überspringen oder im schnellen Vorlauf absolvieren kann, sabotiert das Album-Erlebnis. Auch bietet die Verpackung nicht mehr viel Haptisches, die Silberscheibe wirkt anonym und verschwindet im Player. Die CD wird beim Abspielen unsichtbar – es war ein symbolischer Schritt auf dem Weg zur Auflösung des physischen Tonträgers.
Heute erleben wir Musik im Zeitalter ihrer digitalen Allverfügbarkeit. Was die Downloads nicht schafften, gelang dem Streaming: Es macht inzwischen über 50 Prozent der Musikumsätze aus. Tendenziell ist für uns nun alle Musik der Welt jederzeit und überall anzapfbar – als digitaler Datenstrom aus dem Internet. Das Musikerlebnis hat damit seine körperliche, haptische Dimension völlig verloren – keine Musiker sind im Raum, keine Instrumente, keine Tonträger, kein besonderes Abspielgerät, kein Album-Erlebnis. Man verknüpft sein Nutzerprofil mit dem seiner „Freunde“, abonniert deren Playlists und folgt den Empfehlungen der Streaming-Anbieter. Musik ist etwas sehr Abstraktes geworden. Der Verlust des Dinglichen wird dabei übertäubt durch die Bilder der Musikvideos.
Der Streaming-Konsum entwertet die einzelne Musikerfahrung
Wer junge Menschen fragt, was sie gerne hören, erhält sehr häufig die Antwort: Alles. Was zunächst wie ein Bekenntnis zur Scheuklappenlosigkeit klingt, bedeutet oft leider: Nichts Bestimmtes. Der Streaming-Konsum entwertet die einzelne Musikerfahrung. Auch wenn weiterhin Alben produziert und rezensiert werden – der Hörer muss sich für kein einzelnes von ihnen entscheiden, denn er hat das Allround-Angebot. Wenn alles zur Verfügung steht, wird vieles beliebig.
Streaming-Konsumenten sind keine Musiksammler und Musikforscher. Sie verbohren sich nicht in die Geschichte einer Band, haben nie einen Flohmarkt nach seltenen Aufnahmen abgesucht, sind häufig nicht einmal Fans bestimmter Künstler. Videos, Konzerte, Streaming – es ist eine ständig fluktuierende Sphäre, in der man sich frei bewegt. Die Wahrnehmung von Musik in einem größeren Werk-Zusammenhang und als Brennpunkt der eigenen Persönlichkeit geht dabei verloren. Es gibt kein Pendant zum Album-Erlebnis, das noch Mitvollziehen, Einfühlen und Verstehen verlangte. Wie der Philosoph Matthias Vogel ausführt, tragen musikalische Nachvollzüge „nicht nur etwas zur Strukturierung ihrer Gegenstände, sondern auch zur Strukturierung ihrer Subjekte bei“ (2018). Das Subjekt des Musikhörens ist ein anderes geworden. Dieser Wandel hat auch Auswirkungen auf die Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit beim Hören umfangreicherer Werke. Die Wahrnehmung von Musik wird zunehmend atomisiert – sie schrumpft auf Moment-Erfahrungen.