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In der Alten Oper in Frankfurt am Main feierte die Junge Deutsche Philharmonie ihr Bestehen seit einem Vierteljahrhundert: Mit zwei Orchestern und zwei Konzerten. Das eine bestritten die „Senioren“, die Gründungsmusiker des Ensembles aus den ersten Jahren unter der Doppelleitung der „Ehemaligen“ Thomas Hengelbrock und Jun Märkl, das zweite die gegenwärtige Formation unter Ivan Fischer. Darüber steht ein Bericht auf der nächsten Seite. Theo Geißlers folgende Betrachtungen der allgemeinen Orchesterlandschaft und der besonderen Rolle der Jungen Deutschen Philharmonie in ihr entstanden für die Zeitschrift „Fuge“ der Jungen Deutschen Philharmonie . Ein Gespräch mit dem Geschäftsführer des Orchesters, Hans-Peter Wirth, findet sich auf Seite 48.
Unsere symphonischen Apparate stehen schon lange im Verdacht, sich überlebt zu haben. Sie wirken wie Dinosaurier – übermächtig, museal, ausgestorben. Denn: das soziale System des Orchesters hat den Funktionswandel der Öffentlichkeit während dieses Jahrhunderts verschlafen. Den Konzertsaal, und damit das Orchester, durfte man vom 18. Jahrhundert an als das musikalische Symbol der bürgerlichen Öffentlichkeit ansehen. Es hat sich den eigenen Raum geschaffen, weil ein Publikum entstand, das diese Institution mitbegründete. Man hatte ein gesellschaftliches System produziert, in dem Musiker, Komponisten und Publikum in einem konstruktiven und sich ergänzenden Zusammenhang standen. Die gut gebildeten Publikums-Individuen verbanden sich ihrerseits zu einer tragfähigen Interessengemeinschaft. Orchester und Konzerthaus wurden Ausdruck eines sozialen Systems, gerieten zu einem vielseitigen kulturellen Sprachrohr. Die bürgerliche Öffentlichkeit dieser Art ist mittlerweile zerfallen. Und mit ihr zerfielen die Strukturen ihrer Selbstdarstellung.
Aus dem kundigen Publikum wurde die manövrierbare Masse, aus dem Konzertsaal das Radio – später auch das Fernsehen. Damit begann die Spezialisierung und die Enträumlichung des obengenannten sozialen Zusammenhangs. Wer möchte noch die Musik des romantischen Erbes interpretiert von einem Stadttheater-Orchester hören, wenn er sie über den CD-Handel in meistens höherer „technischer“ und „künstlerischer“ Perfektion von einem sogenannten Spitzenorchester fast frei Haus geliefert bekommt. Zusätzlichen artistischen (oder sektiererischen) Kitzel offerieren Spezialistenensembles, die an keinen Ort gebunden sind. Orchester mit Original-Instrumenten oder Orchester für Neue Musik zum Beispiel. Die einst durch kompetente Individuen charakterisierte musikalische Öffentlichkeit wurde ersetzt durch einen anonymen Markt. Das Individuum unterwirft sich konsequent dem Marketing. Das gab es zwar in Ansätzen auch schon früher, allerdings bestimmt durch das Spannungsfeld von Angebot und Nachfrage – als direkter Austauschprozess zwischen konkreten Repräsentanten. Heute sind dagegen Wirtschaftsorganisationen und Prüfstellen zwischen diese Teilnehmer an der sogenannten Öffentlichkeit getreten. Sie heißen Kulturdezernenten, Kulturorganisationen und Medienkonzerne. Dies alles hat den Wettbewerb unter Orchestern und ihren Dirigenten verschärft – mit zum Teil widerlichen Ergebnissen: wenn ein Orchester seinen Dirigenten nur nach dessen Popularität und seiner charismatischen Selbstdarstellung aussucht. Aber dieser Weg hat zu geschmacksformenden Spitzenleistungen geführt, dem fünffachen Rittberger ähnlich, die man so nur für die Gegenwart attestieren kann.
Doch stellt sich die Frage, ob man auf diese „Spitzenleistungen“ tatsächlich angewiesen ist, ob man Musik wirklich nur nach diesem Maßstab zu beurteilen hat. Ich denke: nein. Musik wird auf diese Weise zu einer losgelösten emotional-intellektuellen Onaniervorlage für ein Elitepublikum, welches entweder sich durch hohen Spezialistenverstand gegenüber der Musik oder durch entsprechende finanzielle Leistungen auszeichnet. Doch wie man den Gedanken auch dreht, es handelt sich dabei nicht mehr um einen Austausch zwischen Individuen, sondern um eine kalkulierte „Kotzen-Nutzen-Rechnung“ (Thomas Kapielski) von Agenten ihrer selbst – Adam Smith’sche Menschen, die alle auf ihren privaten Vorteil aus sind, weil sie daran glauben, dass sich so der Wohlstand der Nationen von selbst ergibt.
Die Medialisierung der Wirklichkeit führt zu weiteren Verzerrungen. Statt der regionalen Bindungen eines Orchesters in einen bestimmten Teil der Welt, gründeten einschlägige Interessenvertreter sogenannte Weltorchester wie die Philharmonie der Nationen oder das namedroppende Gustav-Mahler-Jugendorchester – dabei die alte bürgerliche Vorstellung des „Alle Menschen werden Brüder“ zitierend. Die auf diese Weise zu Universalität auftrumpfende Naivität entbehrt jeglicher politischer Realität und Relevanz. Sie ist blinde Sozialutopie und geschickte Gesellschaftskosmetik gleichermaßen.
Ganz im Gegensatz zu anderen Organisationen, die auf den ersten Blick ähnlich anmuten: Die Junge Deutsche Philharmonie zum Beispiel oder das Weltorchester der Jeunesses Musicales. Denn bei diesen sinfonischen Formationen steht die Auseinandersetzung mit der eigenen musikalischen, seelischen und geistigen Persönlichkeit im Vordergrund. Das äußert sich im Einräumen gegenseitigen Respekts und in der Orchesterarbeit als solcher, die selbst als Bildungsprojekt aufgefasst werden kann und dennoch entsprechende individuelle und deshalb gültige Interpretations-Ergebnisse bietet.
So komisch es klingt: Obwohl die Globalisierung der Öffentlichkeit nicht aufzuhalten ist, kann man doch erkennen, dass mit der Globalisierung zugleich die wesentlichen Eigenschaften der Öffentlichkeit abstrakt werden – und damit obsolet. Daher erwies man sich einen Bärendienst, wenn die regionalen Eigentümlichkeiten, die individuellen Klangfacetten weggebügelt würden: als veraltet, überteuert und konsensunfähig. Im Gegenteil: nur wenn überhaupt im Sozialsystem ausgeprägte Individuen sich ausbilden, werden sie die Kraft zu gegenseitiger Anerkennung entwickeln können. Das Orchester als eigenständiger Organismus wäre als Experimentierfeld dafür vorbestimmt. Zum Beispiel das „Bundesjugendorchester“ oder die „Junge Deutsche Philharmonie“ könnten solche sozial wirklich relevanten Petrischalen sein.
Diese Funktion haben genauso die vielen kleineren Stadtorchester, die mithelfen, einer Region kulturelle Identität zu verschaffen. Das geschieht vor allem dort, wo das Orchester den Graben und den Konzertsaal verlässt. Nicht zuletzt deshalb ist die Gefährdung der Potsdamer Philharmoniker so traurig – übrigens ja mit dem Verweis, dass die Nachbarstadt einige „Spitzenorchester“ besitze. Man anerkennt einfach nicht, dass Kunst, Musik (und ihre Darstellung) nicht als Leistungsbarometer, sozusagen als kultureller DAX dienen darf, sondern ein sehr fein zu justierendes Instrument des Widerstands darstellen muss innerhalb der wahnsinnig schnell schwingenden Hobelmesser unseres zeitgenössischen Kapitalismus.