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Wie Kinder heute in der Schule komponieren

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Eine Gesamtschau der wichtigsten Projekte in Deutschland · Von Volker Michael
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Im schulischen Kunstunterricht malen Kinder ihre eigenen Bilder, statt einem Picasso nachzueifern. Im Fach Deutsch erzählen sie frei erfundene Geschichten, statt Goethe nachzudichten. Nur im Musikunterricht hierzulande fehlt das kreative Element fast vollständig. Von der hehren Kunst eines Bach, Beethoven oder Brahms lässt man lieber die Finger. Oder man erlernt ein Instrument so perfekt, dass man den großen Meistern wenigstens auf interpretierende Weise nacheifern kann.

Im schulischen Kunstunterricht malen Kinder ihre eigenen Bilder, statt einem Picasso nachzueifern. Im Fach Deutsch erzählen sie frei erfundene Geschichten, statt Goethe nachzudichten. Nur im Musikunterricht hierzulande fehlt das kreative Element fast vollständig. Von der hehren Kunst eines Bach, Beethoven oder Brahms lässt man lieber die Finger. Oder man erlernt ein Instrument so perfekt, dass man den großen Meistern wenigstens auf interpretierende Weise nacheifern kann.In Großbritannien dagegen gibt es schon seit vielen Jahren kreativen Musikunterricht mit zum Teil erstaunlichen Ergebnissen. In Deutschland ist an solchen Unterricht kaum zu denken. Nicht nur an Mitteln und spezieller Lehrerbildung mangelt es, sondern oft auch am Willen, die Kinder sich ausprobieren zu lassen, auch wenn ihre Musik zunächst noch so verquer klingen mag. Die Ergebnisse der vielzitierten PISA-Studie bringen nun Eltern, Lehrer, Schüler und Politiker zum Nachdenken über den Wert kreativer Schlüsselqualifikationen. Auch die Tatsache, dass durch die rasante Entwicklung der Kommunikationsmedien Kindern und Jugendlichen am heimischen Computer ganz ungeahnte Wege konsumierender, aber auch kreativer Beschäftigung mit Klängen und Musik offen stehen, macht eine umfassende Debatte notwendig.

In einigen deutschen Städten von Bremen bis München und Dresden bis Köln und im Bundesland Hessen gibt es inzwischen einzelne Projekte, die Kinder im kreativen Umgang mit Musik aller Art trainieren. Die großen Vorbilder für diese Projekte finden sich auf der britischen Insel, vor allem in England und Schottland. Aller Ruhm eines Pioniers auf diesem Gebiet gebührt einem gewissen John Paynter, der 1957 ein musikpädagogisches Buch mit dem Titel „Kinder können Musik erfinden“ veröffentlichte. Dieses Buch brachte einige Pädagogen und Musiker dazu, auf der Insel für die Einführung des kreativen Musikunterrichts zu kämpfen. Und noch vor 1970 gab es die ersten Versuche. Britische Schülerinnen und Schüler lernten, frei und selbständig mit Klängen umzugehen. Zunächst in einzelnen Schulen brachten Lehrer Kindern bei, wie sie aus zwei Tönen einen Rhythmus oder eine kurze Melodie erfinden konnten. Dabei ging es nicht ums Aufschreiben oder um Theorie, sondern um spontane Kreativität.

Zwei Konsequenzen kann man inzwischen beobachten. Erstens sind britische Musiker und Zuhörer offener, was moderne Musik angeht. Und zweitens exportiert Großbritannien, das einst das „Land ohne Musik“ genannt wurde, weil es an der musikalischen Klassik und Romantik auf dem Kontinent so gut wie nicht teilgenommen hatte, hervorragende Musikerinnen und Musiker. Und das nicht nur in den Sparten Rock und Pop. Dirigenten wie Sir Simon Rattle und unzählige Chorleiter erobern den Kontinent. Rattle hat nach Berlin einen seiner Weggefährten aus Birmingham mitgebracht, den Chordirigenten Simon Halsey. Der neue künstlerische Leiter des Rundfunkchors Berlin neigt allerdings dazu, das Vorbild englischer Kreativerziehung schon wieder zu relativieren:

„Wir betrachten Musik, Tanz und Theater als freie Ausdrucksmöglichkeiten. Darin kann sich jeder Mensch ausdrücken. Und dabei kommt es nicht wirklich darauf an, ob es eine Tradition gibt. Bei uns basiert alles auf Komposition und dem freien Ausdruck jedes einzelnen. Das ist sehr gut und kreativ. Das ist der Grund, weshalb Großbritannien so viele Komponisten, Schauspieler und Theaterregisseure hervorbringt. Eine Gefahr besteht allerdings dann, wenn die jungen Leute es professionell tun wollen, dass ihnen die Grammatik fehlt, dass sie nicht wissen, wie Musik geschrieben wird. Jemand sagt: ‚Das ist D-Dur‘. Und sie verstehen kaum, was gemeint ist. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Ich glaube, dass die Skandinavier, besonders die Finnen, den richtigen Weg gefunden haben. Sie haben das außergewöhnlichste Musikerziehungssystem. Jedes Kind erlernt ein Instrument, lernt zu singen, lernt Musiktheorie, lernt zu dirigieren. Vier Millionen Finnen, und jede und jeder ist praktisch Musiker. Das ist unglaublich. Und die, die keine professionellen Musiker werden, bilden dann das bestgebildete Publikum der Welt. Wenn wir also ein gutes Beispiel für Musikerziehung suchen, müssen wir alle nach Skandinavien blicken.“

Die jüngst veröffentlichte PISA-Studie gibt Simon Halsey recht. Ein Land wie Finnland hat nicht nur das bestgebildete Musikpublikum, sondern überhaupt sehr gut und breit gebildete Menschen. Umfassende Musik- und Kunsterziehung ist also nicht nur ein schönes Hobby und wichtig für Demokratie und Humanität. Sie nutzt auch den anderen Qualifikationen, die gern als Hauptfächer bezeichnet werden: Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften. Als internationaler Pionier moderner Musik- und Konzertpädagogik gilt der Londoner Flötist und Pädagoge Richard McNicol. Er begann – auch in den 70er-Jahren – mit seinen Orchesterkollegen, die Kinder in ihren Kindergärten und Schulen zu besuchen, anstatt zu warten, dass diese Kinder mit ihren Erzieherinnen oder ihren Eltern in die Konzertsäle kämen. Seit 1992 steht er als Musikanimateur in Diensten des London Symphony Orchestra. McNicol kann schon positive Folgen des kreativen Musikunterrichts bei seinen jungen Kollegen beobachten: „Allgemein kann ich sagen, dass die jungen englischen Musiker, die beispielsweise in unser Orchester kommen, von ihren Schulen einen Hintergrund mitgebracht haben, Musik zu kreieren. Sie sind an das Geschäft eines Komponisten gewöhnt – nicht daran, Bach oder Beethoven zu sein, aber daran, mit Klängen umzugehen und sie zu organisieren. Ihre Herangehensweise an Moderne Musik unterscheidet sich sehr von der der Musiker meiner Generation.“

Response-Methode

Vor der Einführung des kreativen Musikunterrichts hätten die Orchestermusiker Kinderkonzerte gehasst, erzählt Richard McNicol. Um an der Änderung dieser Malaise mitzuwirken, hat McNicol bei seiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eine spezielle Konzertform entwickelt, die „Response-Methode“. „Response“ – also „Antwort“ bedeutet hier: Die Kinder antworten auf ein Stück moderner oder älterer Konzertmusik mit selbst erfundenen Rhythmen, Melodien oder Stücken, je nach Alter und musikalischer Befähigung. Das berühmte Konzertstück haben die meisten der Schülerinnen und Schüler noch nie oder noch nicht in Gänze gehört. Nur einige Motive oder Passagen werden ihnen von Pädagogen zur Anregung vorgespielt. Noch heute erinnert sich Richard McNicol mit leuchtenden Augen an ein Schülerprojekt vor gut zwanzig Jahren mit Strawinskys „Petruschka“. Einige Motive aus diesem Stück legte McNicol den Schülern damals zum freien Komponieren vor – „Petruschka“ als Ballettmusik kannten die Schüler nicht. Nachdem sie endlich ihre Musik und die Strawinskys verglichen hatten, fragten sie McNicol verblüfft: „Woher konnte denn Strawinsky wissen, wie wir komponieren?“

Die Response-Methode etablierte sich zunächst in England als gute Möglichkeit, junge Zuhörer vor allem an zeitgenössische Musik heranzuführen. In Deutschland veranstaltete das Ensemble Modern erstmalig solche Konzertprojekte 1990 in Frankfurt und Hessen. Schüler aller Altersklassen arbeiten seitdem in einzelnen Projekten mit Komponisten zusammen. Außer in Hessen, wo die Response-Methode am kontinuierlichsten praktiziert wird, gibt es weitere Initiativen in Köln, Bremen, München und Dresden. Doch alle deutschen Projekte des kreativen Musikunterrichts sind bisher Einzelfälle geblieben. Eine Vernetzung hat nicht stattgefunden. Die beteiligten Musiker, Komponisten und Lehrer wissen kaum etwas von den jeweils anderen Projekten und ihren Erfahrungen. Schon seit 1977 gibt es an der Hamburger Jugendmusikschule einen Modellversuch, in dem Instrumentalschüler zum eigenen Komponieren angeregt werden. Daraus ging der Schülerkreis „Jugend Komponiert“ hervor. Einige der dabei entstandenen Kompositionen liegen auch in gedruckter Form vor. Sie können besonders Kinder zum Nachspielen anregen. Vom Hamburger Schülerkreis „Jugend Komponiert“ oder dem gleichnamigen bundesweiten Wettbewerb fühlen sich allerdings nur Kinder angesprochen, die eine traditionelle musikalische Ausbildung genießen. Das geschieht meist außerhalb der allgemein bildenden Schulen. Mithilfe der Response-Methode sollen aber auch sogenannte musikferne Schülerinnen und Schüler erreicht werden.

Der ursprüngliche Ansatz der britischen Response-Erfinder bezieht sich stets deutlich auf bekanntes musikalisches Material. Es geht dabei also um musikalische Bildung. In den Response-Projekten in Deutschland hat sich inzwischen ein zweiter, offenerer Ansatz entwickelt. Dabei werden verstärkt übermusikalische Ideen und die Anregungen der Kinder miteinbezogen, so bei den hessischen Response-Projekten, die der Hanauer Komponist Janko Jezovsek betreut. Er beginnt die Stunden mit gemeinsamem Atmen und dem Ausprobieren von Instrumenten aus aller Welt. Die Kinder experimentieren mit Klängen wie mit Bauklötzern. Sein wichtigstes Hilfsmittel sind nicht Noten und Klavier, sondern Spieluhren und Musikautomaten. Mit Walzen und Lochkarten können die Kinder diese Automaten programmieren und somit Musik erfinden, ohne dass sie Noten lesen müssen.

Seit der Musiktriennale 1997 gibt es in Köln ein Projekt zur kreativen Musikvermittlung an Grundschulen. Die Veranstalter vom „Kölner Büro für Konzertpädagogik“ orientieren sich eng an der in London entwickelten Response-Methode. Ihnen geht es auch darum, Kinder an zeitgenössische Konzertmusik heranzuführen. Im vergangenen Jahr erlebte das Kölner Projekt bereits seine vierte Runde mit sechs Grundschulklassen. Zwei Stücke von Bernd Alois Zimmermann - die „Vier kurzen Studien für Violoncello“ und das „Trompetenkonzert in C“ – standen im Hintergrund der Arbeit mit den Kindern. Die beteiligten Schülerinnen und Schüler hatten sich zuerst diese Stücke angehört und dann – ohne direkt hörbaren Bezug – zu eigener Musik anregen lassen, mit zum Teil sehr ungewöhnlichen Instrumenten. Eine der Absichten von Response-Projekten ist, Kinder zu offenen und anspruchsvollen Zuhörern moderner Musik zu machen. Durch ihre eigene Kreativität und den Kontakt mit Komponisten und Musikern werden die Kinder zu Insidern. Das erleichtert ihnen den Zugang zu Musik, die nicht so leicht konsumierbar ist. Der Komponist und Musikpädagoge Hans W. Koch ist einer der Betreuer. Er beschreibt das bisherige Response-Repertoire in Köln: „Das erste in Köln war zu ‚Gruppen‘ von Stockhausen. Also ein Stück für drei Orchestergruppen, das im allgemeinen als ein sehr schwieriges Stück gehandhabt wird. Wir waren auch mit den Kindern in der Orchesterprobe. Die Orchestermusiker haben gesagt: ‚Was wollt Ihr denn mit den Kindern hier – das ist viel zu schwer für die!‘ Es war für die Kinder überhaupt nicht zu schwer. Zu schwer war es für die Eltern, die uns begleitet haben. Das zweite Mal war es ein Stück von Helmut Lachenmann für großes Orchester, dreißig Minuten lang. Die Kinder waren total fasziniert, nicht nur von dem, was es zu hören gab, sondern auch von dem was es zu sehen gab an ungewöhnlichen Instrumenten. Beim dritten Mal war es ein Stück von Schnebel, „die Maulwerke“. Da hatten wir das große Glück, dass wir das Modellstück auch reinholen konnten ins Konzert, das die Kinder gemacht hatten, so dass es auf der Bühne beides gab, Stücke von den Kindern zum Thema ‚Stimme‘ und ‚die Maulwerke‘, von dem Ensemble ‚Die Maulwerker‘ aufgeführt, auch nur mit Stimme. Das war ein besonders glücklicher Dialog, auch weil Dieter Schnebel selber da war im Konzert.“

Bei den weniger material- und bildungsbetonten Projekten wie dem in Köln bekommen die Schüler keine musikalischen Motive vorgelegt, sondern nur grobe Gestaltungsideen. Dabei kann es um die Verteilung von Klängen oder Instrumenten im gesamten Raum gehen oder um weiterreichende musikalisch-philosophische Ideen. Hans W. Koch erläutert seine Herangehensweise:
„Beim Trompetenkonzert von Bernd Alois Zimmermann, das dieses Jahr das Modellstück war, ist es die Idee der Gleichzeitigkeit verschiedener Dinge. Zimmermann hatte ja die Idee von der Kugelgestalt der Zeit. Die Musiken aller Epochen können gegenwärtig sein. Das haben wir uns als Meta-Idee sozusagen herausgepflückt, weniger einzelne Motive oder thematische Verfahrensweisen von Zimmermann. Das war ganz irrelevant, auch weil die meisten Kinder gar keine Instrumente spielen konnten. Das heißt, wir arbeiten mit vorgefundenen Instrumenten, sei es das Orff-Instrumentarium, das in der Schule so sein Dasein fristet, seien es Alltagsinstrumente wie Joghurtbecher, Stühle, was auch immer gerade zur Hand ist. Eine meiner Klassen hat ein Stück hauptsächlich mit Stühlen gemacht, in dem man Stühle als Instrumente benutzt.“

In Dresden heißt das Response-Projekt „Musik Erfinden in der Schule“. Damit richten sich die Veranstalter vom Dresdner Zentrum für Zeitgenössische Musik und vom Heinrich-Schütz-Konservatorium an Oberschüler. In den vergangenen zwei Jahren haben Komponisten und Klassen in Dresden und Umland auf sehr unterschiedliche Weise zusammengearbeitet. Beim Durchgang im Jahr 2001 reichte das Spektrum von einer Suite für Solo-Oboe über einen traditionellen Response-Kurs, bei dem es ein modernes Hintergrundstück gab, das die Schüler nie zuvor gehört hatten, bis zu einer allein von Schülern geschriebenen und aufgeführten Musik für ein chinesisches Schattenspiel.

Schon zum zweiten Mal haben die Schülerinnen und Schüler einer achten Klasse des Gymnasiums Dresden-Gruna bei „Musik Erfinden in der Schule“ mitgemacht. Ihr chinesisches Schattenspiel entstand in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Karsten Gundermann. Eine Schülerin berichtet von ihrer Erfahrung aus zwei Projektjahren:
„Wir hatten das erste Projekt in Gruppenarbeit gemacht. Dazu hatten wir uns in mehrere Gruppen aufgeteilt, je nachdem welche Geschmäcker da waren. Es gab Romantiker, Dramatiker, Mystiker – so hat jede Gruppe ihre eigene Melodie erfunden. Das haben wir in ein mehrsätziges Stück zusammengebaut und dann aufgeführt. Dieses Jahr war es so, dass wir uns in den Ferien einfach zusammengesetzt haben, uns die Stellen herausgesucht haben, wo eine Musik gespielt werden könnte, und haben das dann gezielt komponiert. Wir wussten ja schon, dass es chinesisch ist, dass man chinesische Töne bräuchte für ein Schattenspiel. Durch das erste Projekt konnten beim zweiten Projekt alle das ziemlich selbständig machen ohne jegliche Hilfe. Da ging das auch alles relativ schnell Wir haben das in drei Tagen komponiert.“

Garant für Spaß und Erfolg

Wie so oft sind auch am Grunaer Gymnasium ein sehr engagierter Musiklehrer und ein offenherziger Komponist die Garanten von Spaß und Erfolg. Schon aus dem alltäglichen Musikunterricht wussten die Schülerinnen und Schüler, wie man Liedbegleitungen verfasst. Da war der Schritt zum freien Komponieren nicht mehr groß. Beim Vergleich aller Musik-Erfindungs-Projekte an Dresdner Schulen fällt folgendes auf: Die Komponierenden gehen sehr unterschiedlich vor. Manche von ihnen lassen kaum Freiräume – die Schüler können höchstens beim Komponieren zusehen. Andere wie Karsten Gundermann geben den Schülern Anregungen und unterstützen sie bei ihrer schöpferischen Arbeit. Für das Heinrich-Schütz-Konservatorium betreut Manuel Wilke das Projekt „Musik Erfinden in der Schule“. Er hält die Begleitung durch Komponierende für unverzichtbar: „Die eine Idee ist natürlich, dass Komponisten ein bisschen versuchen, den Lernprozess der Schüler zu begleiten und zu ergänzen, Formen zu finden, die für die Schüler verständlich sind und sie aber auch mit der Kompositionstechnik, die heutzutage sehr verschieden sein kann, bekannt zu machen. Die Kinder und Jugendlichen bringen natürlich ihre Impulse und ihre Kenntnisse ein, die sie auf musikalischem Sektor haben. Das heißt, es ist nirgendwo garantiert, dass ein bestimmter Stil oder eine bestimmte Klangrichtung realisiert werden, sondern es kommen romantische und sogar klassische Elemente heraus. Es war eine ganz klassische Tonleiter zu hören, die im Zusammenhang des Stücks recht überraschend war. Das sind Dinge, die einfach dazukommen und in der heutigen Zeit in der Form, wie sie präsentiert werden und in Zusammenhang gestellt werden mit ganz anderen modernen Erscheinungen, natürlich schon von hoher Kreativität der jungen Leute zeugen. Das ist schön. Das alte klassische Motto ‚Dabei sein ist alles‘, das reicht nicht mehr. Sondern es wird erwartet, dass als junger Mensch über seinen eigenen Horizont in Zusammenarbeit mit dem Komponisten hinauswächst, mehr kennen lernt und eine neue Erwartungshaltung hat, Fragestellungen entwickelt, sich dadurch viel intensiver mit Musik überhaupt und Neuer Musik beschäftigt als das, was der normale Standardunterricht leisten kann.“

Abenteuer Handy

In ihre Geschichte „Die Abenteuer der Mikron“ haben Schüler der 124. Mittelschule in Dresden verschiedene Handymelodien eingebaut. Das bezeichnet ein ideales Zusammentreffen von Alltagsklängen und kompositorischem Anspruch. Frank Geissler vom Dresdner Zentrum für Zeitgenössische Musik schätzt die enorme Vielfalt von „Musik Erfinden in der Schule“. Dabei dürften wohl manche Künstler erst die Mentalität ihrer Zuhörer kennen lernen: „Sobald ein Komponist die Schüler überfordert, ist Schluss, und die steigen aus. Einige haben das auch erlebt. Wir sind an das Projekt anfangs ganz unbefangen herangegangen. Wir wussten nicht genau, wie man mit dem Frankfurter Response-Modell umgeht, wie man Modellstücke in Aufgabenstellungen und eigene Kompositionen umsetzt. Das heißt, wir haben es den Komponisten überlassen, das so zu machen, wie sie es eigentlich wollen. Da hat jeder seinen eigenen Stil eingebracht – manche sind erst elend auf die Nase gefallen. Dann haben sie aber noch eine Methode gefunden, die ganz pragmatisch auf die Schüler eingeht, damit bei ihnen Kreativität entsteht. Anders geht es einfach nicht. Ich finde gerade die Vielfalt hier gut. Man sollte das nicht irgendwie beschneiden.“

Die Münchner „Musik zum Anfassen“ schließlich richtet sich wieder an Grundschüler. Sie verzichtet vollkommen auf einen Bildungsansatz, ist aber vielleicht das sinnlichste aller deutschen Kreativprojekte. Die Betreuer selbst sind Profimusiker. Sie begleiten die Kinder beim Erfinden und dramatisieren von Geschichten – hier liegen Bühne, Konzert und reales Leben eng beieinander. Bei den Stories „Die Badezimmerbande“, „Der lustige Besuch von meinem Roboter“ oder „Saschas Fahrt in den Weltraum“ kommt einfach nur Spaß auf. Die Musiker können aber auch das ein oder andere Musikstück aus ihrem Repertoire einstreuen und die Kinder mit der modernen Klangwelt vertraut machen – ganz unbemerkt und nebenbei. Für Stimmung sorgen die Kinder ganz allein.

Das hessische und die anderen deutschen Response- und Musikerfindungs-Projekte haben immer wieder mit Finanzproblemen zu kämpfen. Eigentlich sollten sie zum festen Bestandteil der Schulbildung werden und darüber hinaus als Fortbildungsmaßnahmen für Lehrerinnen und Lehrer gelten. Schließlich sichern sie ja Orchestern, Opern und freien Ensembles und Gruppen auf längere Sicht den Publikumsnachwuchs. Aber dieses langfristige Denken, das über aktuelle Haushaltsprobleme hinausgeht, fängt wohl erst zaghaft an in Deutschlands Bildungslandschaft.

Quelle: „Triangel. Das Musikjournal“ (MDR KULTUR)

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