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Kinderhort statt Goldhort: Arnold Bezuyen in Valentin Schwarz’ „Rheingold“-Inszenierung. Foto: Bayreuther Festsp./Nawrath
Kinderhort statt Goldhort: Arnold Bezuyen in Valentin Schwarz’ „Rheingold“-Inszenierung. Foto: Bayreuther Festsp./Nawrath
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Zeitnahe Agilität und musikalischer Tiefflug

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Eine Besichtigung der Dauerbaustelle Bayreuther Festspiele
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Natürlich überlegt sich die Bayreuther Festspielleiterin Katharina Wagner genau, was und wem sie etwas sagt. So auch bei unserem Gespräch am 5. Juli im Garten am Festspielhaus. Genau drei Wochen vor dem traditionellen Beginn am 25. Juli – dieses Jahr mit einem kurzfristig eingeschobenen „Tristan“ in der Regie von Roland Schwab und dem ursprünglich vorgesehenen Dirigenten Cornelius Meister – sollte es nicht nur um das aktuelle Programm der Bayreuther Festspiele gehen, sondern um allgemeine Fragen, Planungskriterien und Konzepte für das Festspieljubiläum 2026. Doch bis zur Freigabe kochten die Themenwellen hoch: Im Nachhinein gab Katharina Wagner keine weiteren Antworten auf die bis Ende August aufgekommenen Fragen. Die Ereignisse – Umbesetzungen, Störfälle hinter den Kulissen, Mutmaßungen – überschlugen sich.

Zum dritten und letzten „Ring“-Zyklus am 25., 26., 28. und 30. August war in der heiteren Publikumsstimmung von den Informationsturbulenzen indes so gut wie nichts zu spüren. Sogar die Diskussionen um die – wohlmeinend ausgedrückt – zwiespältige Inszenierung von Valentin Schwarz verliefen vergleichsweise harmonisch. Drinnen kam es dagegen nach mehreren der insgesamt zehn „Ring“-Aufzüge an vier Abenden zu erbitterten Buh-Rufen. Bei den Sängern verständigte sich das Auditorium meistens auf einhellige Zustimmung – ausgenommen bei Irene Theorin, die erst nach einem Stinkefinger Richtung Negativbekundungen deutlichere Buhs einstecken musste. Die Stärken des eingesprungenen Stuttgarter Generalmusikdirektors Cornelius Meister lagen eher in den flüssigen Dialogszenen als in den großen Aufschwüngen.

Als temporärer Bayreuth-Besucher kann man unterscheiden in gewichtige und spekulative Meldungen. Relevant ist natürlich die Frage, ob und zu welchen Konditionen Katharina Wagners Vertrag als Festspielleiterin 2025 vom Stiftungsrat und vom Freistaat Bayern verlängert wird. Ein Wechsel der Leitungsspitze hätte bei den an großen Opernhäusern üblichen Planungsvorläufen von drei bis fünf Jahren weniger Auswirkungen auf die künstlerische Vorbereitung des Jubiläums 150 Jahre Bayreuther Festspiele als gedacht, zumal erste Schritte schon jetzt eingeleitet werden müssen. Einen Wechsel an der Leitungsspitze hält man – ausgesprochen zum Beispiel von Florian Zinnecker auf BR Klassik am 13. September 2022 – nicht für gänzlich ausgeschlossen.

Erweiterung des Kanons?

Probenabläufe, Veranstaltungsfolgen und mögliche Besetzungen von mehreren Partien in verschiedenen Wagner-Werken werden bei den Bayreuther Festspielen bereits seit Jahrzehnten ähnlich gehandhabt. Es gibt „nur“ zehn Werke mit äußerst anspruchsvollen, aber bei Kenntnis überschaubaren Aufgaben. Es sei denn, man erweitert den Bayreuther Kanon, wie dies der Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov im Gastbeitrag „Wagners geistiges ‚Anzünden‘“ am 14. Juli in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorgeschlagen hatte. In Bayreuth sollten, so fordert Nemtsov, Opern von Giacomo Meyerbeer, der Wagner protegierte und von diesem in seinem Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ attackiert wurde, zur Aufführung gelangen. Inhaltlich ist der Vorschlag für ein programmatisches Korrektiv an Wagners Vereinnahmung durch nationalistische Extremgruppen ernst zu nehmen, läuft aber der noch immer geltenden Satzung der Stiftungsurkunde der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth zuwider. Diese sieht im Festspielhaus ausschließlich festliche Aufführungen von Werken Richard Wagners vor.

Letzter Baustein der sich ungewöhnlich tief in den Nachsommer 2022 einfräsenden Debatten um die Festspiele sind Statements von Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die mit einem Blick auf die Verjüngung der Zuschauerschaft im Festspielhaus postulierte: „Die Leitung der Festspiele wird sich in den nächsten Jahren stärker um ihr Publikum bemühen müssen.“ Zugleich halte sie eine Bayreuther Leitungsspitze ohne ein Mitglied der Familie Wagner nicht für ausgeschlossen. Sie, aber auch Katharina Wagner selbst, fordern Reformen ein. So der Stand Mitte September 2022 – Änderungen vorbehalten.

In der Kunst und erst recht in der flüchtigen Form des Theaters sind Positionen zu Aufführungen und deren Wirkungen wandelbar. Auch in Bayreuth, wo immer wieder eine Crescendo-Amplitude von wütender Ablehnung zu enthusiastischem Zuspruch feststellbar ist. Es gibt kein anderes Festival, dessen Beiträge in der Erinnerungskultur europäischer Musikfreunde so verankert sind wie die Bayreuther Festspiele: die so genannte Entrümpelung durch Wieland Wagner, dessen Nähe zu Hitler in jüngster Zeit verstärkt in den Aufarbeitungsfokus rückt, die Besetzung der Venus und des Holländer mit den Sängern Grace Bumbry und Simon Estes (zuletzt reflektiert im Hinblick auf Zuschreibungen durch Besetzungen von Kira Thurman in in „Singing Like Germans: Black Musicians in the Land of Bach, Beethoven and Brahms“, 2022) oder das Fanal von Patrice Chéreaus Jahrhundertring mit der von diesem ausgelösten Flut neuer Methoden der szenischen Interpretation für Wagner und andere Opernkomponisten. In dieser Linie hat Valentin Schwarz’ „Netflix-Ring“ gute Chancen auf einen Platz in der Wagner-Rezeption. Aus zweierlei Gründen: Neu ist bei Schwarz auf der visuellen Ebene die Verschiebung der Semantik von Worten (Goldhort zu Kinderhort) und die Priorisierung von dramatischen ‚Nebenschauplätzen‘ bei gleichzeitiger Brechung und Vernachlässigung von Wagners ‚Handlungslogik‘. Es dürfte bei Wiederaufnahmen in den kommenden Jahren spannend werden, inwiefern einerseits Korrekturen und andererseits ein Verständniswandel für die umstrittene Produktion eintreten wird.

Die mediale Verbreitung betreffend sind die Bayreuther Festspiele bes­tens aufgestellt, ebenso in der Kulturvermittlung und mit partizipativen Projekten wie der Kinderoper. Open-Air-Konzerte tragen die Präsenz der Festspiele vorbildlich in die Stadtgesellschaft, die lange Zeit von den inhaltlichen und künstlerischen Veranstaltungen weitgehend ausgeschlossen war. Katharina Wagner hat noch mehr vor: „An den Schulen kommt der Musikunterricht zu kurz. Es geht ja nicht nur um Wagner oder Musiktheater. Wir haben den Auftrag, Kindern die Gattung Oper nahe zu bringen. […] Die unmittelbaren Möglichkeiten der Festspiele zur Nachwuchsförderung will ich stärker ausbauen. Mit Christian Thielemann habe ich während der Proben über eine Akademie mit jungen Musikern nachgedacht. Aus ihnen könnte man ein eigenes Orchester für Kinderopern und Konzerte im Park rekrutieren.“

Vielfalt der Handschriften

Damit sind die Bayreuther Festspiele auf Höhe der Zeit, auch in der Vielfalt szenischer Handschriften in den Inszenierungen: „Lohengrin“ als szenische Vision eines bedeutenden Malers der Gegenwart, „Der fliegende Holländer“ als mit realistischen Mitteln gestaltetes Fast-Gegenwartsstück, der kurzfristig eingeschobene „Tristan“ mit seinen aus der Tradition gespeisten Symbolen von ewiger Liebe und physischer Vergänglichkeit, „Tannhäuser“ als ebenfalls realistische und gesellschaftliche Diskurse aufgreifende Lesart –  all dies sind Paradigmen wesentlicher Methoden der Musiktheater-Regie: Für die begrenzte Zahl von Werken des Bayreuther Kanons präsentierte Katharina Wagner, die in unserem Gespräch ein besonderes persönliches Berührtsein durch Christoph Schlingensiefs „Parsifal“ und Tobias Kratzers „Tannhäuser“ zugab, eine schwer zu überbietende Fülle an Deutungsansätzen.

Das führt zum Kern des vorerst bis 2025 einzigartigen Konstrukts der Bayreuther Festspiele. Immer wieder opponieren Erben und Inhaber von Urheberrechten bei ungewöhnlichen theatralen und musikalischen Ansätzen, so etwa die Nachkommen von Richard Strauss gegen eine Inszenierung von „Salome“ durch Werner Schröder vor vielen Jahren am Theater Augsburg oder Alban Bergs Witwe gegen eine Vollendung von dessen „Lulu“-Fragment. Es gibt keinen ähnlich prominenten Fall, in dem die kritische Auseinandersetzung mit dem künstlerischen und theoretischen Vermächtnis der Vorfahren zum Arbeits- und Vertragsinhalt der direkten Nachkommen und Erben gehört. Angesichts der problematischen Verquickung der Familien- und Festspielgeschichte von 1923 bis 1945 ist das auch zwei bis drei Generationen später eine sensible Situation. Katharina Wagner ist die erste Festspielleiterin der Familie Wagner, die Aufführungen von Opern ihres Großvaters Siegfried Wagner nicht passiv oder aktiv verhinderte oder ignorierte, sondern zur Festspielzeit an anderen Spielstätten befürwortet.

Infolge dieses Konstrukts mit einer für Anhänger aller politischen Richtungen relevanten Kultureinrichtung sind die Bayreuther Festspiele Dynamit für Kritik, Analyse, Wertung und mediale Wirkung bei ungebrochener Ausstrahlungskraft. Es geht um einen zukünftigen Weg mit Konzentration auf singuläre Alleinstellungsmerkmale und praktizierten Pluralismus. Ein Teil des Bayreuther Nimbus besteht in der weltweit einmaligen, aber für viele Kompositionen neben Wagner ungeeigneten Akustik des Bayreuther Festspielhauses. Es ist noch nichts darüber bekannt, ob führende Meyerbeer-Dirigenten wie Marc Minkowski oder Enrique Mazzola den verdeckten Orchestergraben des Festspielhauses für unter ganz anderen Aufführungsbedingungen entstandene Musiktheater-Werke geeignet halten.

Zurück zum Jahrgang 2022: Es gab musikalisch schon weitaus bessere Jahrgänge. Auffallende Defizite lagen beim „Ring“ 2022 neben der szenischen ebenso auf der musikalischen Seite. Dazu gehörten neben als schwierig betrachtete Leistungen zahlreiche unvorhersehbare Vorkommnisse: Absagen und Ausfälle von Sängern und Dirigenten durch Krankheit (Pietari Inkinen), zu knapp bemessene Probenzeiten (Tatjana Gürbaca für den dann Valentin Schwarz anvertrauten „Ring“) oder Bühnenunfälle (Tomasz Konieczny im dritten Aufzug der „Walküre“-Premiere) akkumulierten. Katharina Wagner sagte: „Wir bieten intensive Coachings an – musikalisch, sprachlich und rhythmisch. Ensembleproben gibt es vor allen szenischen Proben und Vorstellungen, etwa für Blumenmädchen, Rheintöchter und das heikle Gebet im „Lohengrin“. Die Partiekenntnis kann sich festigen und die Flexibilität, verschiedene Tempo-Vorstellungen der musikalischen Leitungen umzusetzen. Das ist für uns normal.“ Davon war in den „Ring“-Vorstellungen wenig zu hören. Ältere und jüngere Festspielgäste zeigten sich von der mäßig bis schwer verständlichen Diktion, die früher ein Vorzeigemerkmal der Festspiele war, enttäuscht. Diskurse mit Experten der historisch informierten Aufführungspraxis wie das Einspringen von Hartmut Haenchen für Andris Nelsons bei „Parsifal“ (2016) oder das Dirigat von Thomas Hengelbrock bei „Tannhäuser“ (2011) sind bei den Bayreuther Festspielen eher zufällig als geplant. Das wissenschaftliche Projekt „Wagner-Lesarten“ von Concerto Köln mit der Kunststiftung NRW, das mit den Dresdner Musikfestspielen fortgesetzt wird, erfährt auf dem Grünen Hügel wenig Beachtung.

Die szenische Auseinandersetzung und Konzeption ist in Bayreuth dagegen auf Höhe der Zeit. Musikalisch bleiben jedoch einige Wünsche offen, sowohl in der Realisierung wie in der Reflexion. Es wird spannend, wie sich die Verjüngung des Publikums bei gleichzeitigen Kostenexplosionen und nachhaltigen Produktionsmethoden gestalten soll. „Wir können die Preise für Eintrittskarten nicht ins Unendliche steigern. Für das Jubiläum 2026 kommen große Herausforderungen auf uns zu.“ sagte Katharina Wagner mit Nachdruck.

Neue Konkurrenzsituationen

Im schon längst auf Streaming und Online-Angebote verlagerten Wettbewerb sind die Bayreuther Festspiele als Wagner-Hotspot Primus inter pares. Würden sich die Festspiele anderen Werken öffnen, träten sie zum Beispiel in Konkurrenz zum „Ring“ der Oper Dortmund, deren Intendant Heribert Germeshausen auf mehrere Jahre im „Wagner Kosmos“ die Tetralogie in Beziehung zu Opern aus dem erweiterten ästhetischen Umfeld Wagners setzt.

Wie andere Festivalangebote geraten auch die Bayreuther Festspiele durch Informationsangebote via Social Media und Internet in eine verdichtete Konkurrenzsituation. Dabei bieten die Alleinstellungsmerkmale des Festspielhauses und seiner exemplarischen Akustik entscheidende Vorteile sowie ein krisenfestes Publikumsinteresse. Dazu würde den Bayreuther Festspielen eine sinnliche Achtsamkeit gut anstehen, wie sie das musikalische Format zum Beispiel der „Rheingold“-Premiere am 18. September 2022 am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken mit nur zwei Gästen, einer rundum bemerkenswerten Besetzung aus dem eigenen Ensemble und einer bravourösen Orchesterleistung unter Sébastien Rouland ausmachte. In Zeiten digitaler Omnipräsenz könnten sich die Bayreuther Festspiele mit einem offenen Rundblick einen Eindruck des eigenen Leistungsspektrums verschaffen und angemessen reagieren. Ein Klick auf Operabase ergab am 7. August 2022 weltweit 13 Produktionen des „Ring“-Finales „Götterdämmerung“ im Vorstellungszeitraum bis August 2023, davon 11 allein in Deutschland. Gemessen an Richard Wagners skurrilem Spontaneinfall einer einmaligen „Ring“-Aufführung mit finalem Abfackeln des provisorischen Theatergebäudes, die am Beginn der Bayreuther Festspielidee stand, ist das eine stolze Zahl.

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