Artikel 30, Absatz 2 der UN-Behindertenrechtskonvention hat es in sich: „Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft.“
Im Kontext der Umsetzung dieses Artikels scheinen bis heute drei Themenfelder auf: Das Unterrichten und die Förderung der Menschen mit Behinderung selbst, die Ausbildung derjenigen, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung in künstlerischen Disziplinen unterrichten sollen und wollen und die Förderung der Präsenz von Menschen mit Behinderung als Kunstschaffende im Kulturleben. Jedem dieser Themenfelder sind große Bereiche wie Aus- und Weiterbildung, Kulturvermittlung und Kultur- und Arbeitsleben unterlegt.
Das Netzwerk Kultur und Inklusion, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, behandelt seit nunmehr fünf Jahren Themen, die bei der konkreten Gestaltung und Umsetzung des Prinzips Inklusion „im Gehen“ entstehen. Themen, die sich in allen Bundesländern und auf verschiedenen Ebenen zeigen: Bislang sammelte eine Runde von Künstlern/-innen, Pädagogen/-innen und Wissenschaftlern/-innen, von Eltern und Menschen mit Beeinträchtigung Wissen und Erfahrungen zu den Bereichen „Teilhabe am künstlerischen Arbeitsmarkt“, „Ausbildung für künstlerische Tätigkeit von und mit Menschen mit Behinderung“, „Menschen mit Behinderung in Presse, Film und Fernsehen“ sowie zu „Kultur oder Soziales – Kultur und Inklusion im Dilemma?“ Die jeweiligen Tagungsdokumentationen sind abrufbar unter https://kultur-und-inklusion.net/
Die fünfte Fachtagung des Netzwerks am 6. und 7. November 2019 hatte einen Vorlauf: Unterstützt von der Kultusministerkonferenz befragte das Netzwerk die künstlerischen Hochschulen des Landes nach Iststand und Problemen bei der Umsetzung der Inklusion. Die fünf Bereiche der Umfrage bezogen sich auf Personal, Lehre, Studierende, auf die Aufnahmesituationen und Prüfungen sowie auf Aspekte der Infrastruktur. Aus dem Fragenkatalog:
- Gibt es an Ihrer Hochschule Lehrende, die zusätzlich zu ihrer fachlichen Qualifikation auch über Kompetenzen und Erfahrungen im Bereich Inklusion bzw. im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung verfügen?
- Bieten Sie den Studierenden spezielle Lehrveranstaltungen zum Thema Inklusion an?
- Ist der Inhalt „Inklusion“ Teil Ihrer Prüfungsinhalte?
- Bieten Sie pädagogische oder künstlerische Lehrveranstaltungen oder Projekte (Beispiel: Chor, Ensemblearbeit) an, an denen Menschen mit Beeinträchtigung teilnehmen?
- Gibt es Ansprechpartner*innen für Studieninteressierte mit Beeinträchtigung?
- Studieren an Ihrer Hochschule aktuell Studierende mit Beeinträchtigung?
- Wie beurteilen Sie die aktuelle Barrierefreiheit Ihres Hochschulgebäudes?
- Wie beurteilen Sie die aktuelle Barrierefreiheit Ihrer Homepage?
Der Rücklauf war bemerkenswert: Alle 49 künstlerischen Hochschulen in der Bundesrepublik haben den Fragebogen beantwortet. Eine erste Sichtung der Antworten präsentierte Prof. Dr. Susanne Keuchel zu Beginn der Tagung. Aus den Ergebnissen: Etwa zwei Drittel der Hochschulen sieht einen Weiterbildungsbedarf auch beim eigenen Personal in Sachen Inklusion, Lehrveranstaltungen zum Thema Inklusion bieten 39 Prozent der Hochschulen an, ein Drittel der Hochschulen schätzt ihre Gebäude als gut bis sehr gut zugänglich ein – und die Barrierefreiheit ihrer Webseiten beurteilen 13 Prozent der Hochschulen als gut. Die umfassende Auswertung des Fragebogens erscheint in absehbarer Zeit unter anderem auf der Homepage des Netzwerks.
Facettenreich zeigte sich die Tagung in der Präsentation von Themenfeldern und Modellen, wobei immer wieder deutlich wurde, dass Struktur und Inhalte nicht getrennt behandelt werden können: Wenn eine Hochschule wie die Hochschule für Künste im Sozialen Ottersberg als eine der ersten künstlerischen Hochschulen bundesweit Menschen mit Beeinträchtigung als Gasthörer zulässt, hat das Auswirkung auch auf die Inhalte der Arbeit in den künstlerischen Klassen – Prof. Dörner stellte das Modell und damit verbundene Erfahrungen zusammen mit Lis Marie Diehl vom Verband Eucrea vor.
Wieviel das Thema Inklusion auch mit der persönlichen Weiterentwicklung der „Nichtbehinderten“ zu tun hat, dokumentierte Prof. Dr. Dierk Zaiser aus Trossingen: Projekttagebücher und Beobachtungsprotokolle dokumentieren nicht nur die Veränderungen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Beeinträchtigung, sondern auch die Veränderung des Blicks der Studierenden auf die Kinder und Jugendlichen.
Inklusion und künstlerische Hochschulen: Die Tagung hat nicht nur ein Themenmosaik zwischen Aufnahmeprüfung und Nachteilsausgleich, zwischen Lehre und künstlerischer Praxis, zwischen Struktur und Inhalt zusammengetragen, sondern auch Forderungen und Ausblicke formuliert, die unter anderem der Kultusministerkonferenz übergeben werden.