Baden-Baden - Was haben die Stars Boulez, Glasperlenspiel und Netrebko gemeinsam? Sie waren im «Toccarion» - und finden es klasse. Wie die Kids, die täglich durch den ungewöhnlichen Musik-Abenteuerspielplatz toben. Musikschulen hatten damit zunächst Probleme, doch profitieren nun.
Der Lärm ist ohrenbetäubend. Während Julia in das Mikro schmettert, lachen sich nebenan zwei Jungs vor dem Zerrspiegel kaputt. Aus den Kopfhörern kommen ihre Stimmen - doch so verfremdet, dass «Star-Wars»-Bösewicht Darth Vader vor Neid erblassen würde. Das macht Spaß. Ganz nebenbei erfahren die Vorschulkinder, wie die menschliche Stimme funktioniert. Im Praxistest vor den Spiegeln und theoretisch am vereinfachten Modell einer Riesenlunge.
Der verdunkelte Raum im Keller des «Toccarion» ist nur eine Station der vor zwei Jahren eröffneten Kindermusikwelt am Festspielhaus Baden-Baden. Fünf- bis Zwölfjährige sollen dabei spielerisch ein Verständnis für Musik bekommen und an Instrumente herangeführt werden. Ein europaweit einzigartiges Projekt, wie Stefan Kiener stolz betont, dessen Familienstiftung es finanziert.
«In vielen Kindergärten und Schulen kommt die Musik zu kurz», erzählt der dreifache Vater. Vor allem bei musikfernen Familien hofft er, «einen Funken entfachen zu können». Für die Musikerlebniswelt zum Anfassen - wie der aus dem italienischen toccare (berühren) abgeleitete Name anklingen lässt - hat er sich in der ganzen Welt inspirieren lassen: von der begehbaren Klavier-Tastatur aus den USA bis zum virtuellen Orchester, das es so nur in Wien gibt.
Um in Gesang und Stimme, Rhythmus und Tanz sowie Musikinstrumente und Orchester einzuführen, hat die Siegmund-Kiener-Stiftung für 4,5 Millionen Euro auf 600 Quadratmetern moderne Erlebnisräume geschaffen und Belle-Époque-Säle des Alten Bahnhofs liebevoll restauriert.
Der Parcours beginnt mit einer kleinen Lightshow im «Stimmenkeller». Die Oboistin Nordrun Münchgesang-Altinger führt neun Mädchen und Jungen aus einem Kindergarten in Rheinau in die Musikwelt ein. Lachende, wütende und traurige Emoticons demonstrieren nebenan, wie Gemütszustände in der Musik umgesetzt werden. Beim «Rhythmus-Radar» kann man Geräusche speichern und Kompositionen schaffen - das macht auch gestandenen Musikern Spaß, wie der Band Glasperlenspiel bei einem früheren Besuch.
Die erste Stunde ist um, die Kids sind etwas erschöpft. Im Instrumentensaal werden sie wieder hellwach. Dort, wo der badische Markgraf einst die per Bahn anreisenden Adeligen empfing, stehen alle möglichen Instrumente - von der Kinderharfe über die Tuba und Klarinette bis hin zum Kontrabass. Das blaue Schlagzeug ist der Renner. Und natürlich das «Walking Piano», das schon Star-Sopranistin Anna Netrebko fasziniert hat. Über die riesigen Tasten können die Kinder rennen und eine Kakophonie auslösen - oder Melodien erzeugen.
Theoretisch geht dies auch bei der 1,80 Meter langen Blockflöte, die als tiefste Flöte der Welt gerade auf den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde wartet. Dafür bräuchte man aber etwas mehr Puste - oder müsste den Blasebalg bedienen. Nach zwei Stunden ist den Kleinen nur noch nach Tollen zumute. Übermütig kugeln sie über den Boden, kicken Noten wieder auf ihren Platz ins virtuelle Notenheft, damit «Alle Vögel sind schon da» erklingen kann.
Einmal täglich führen «Musik-Lotsen» Gruppen durch die «musikalische Erlebniswelt», für die die Stiftung jährlich rund 350 000 Euro aufbringt. Mehr als 14 000 Besucher hat sie inzwischen gezählt; meist Kinder aus Baden-Württemberg, der Pfalz oder dem benachbarten Elsass.
Anfangs wurde das Projekt kritisch von den etablierten Musikschulen beäugt. «Die Sorge war schon, dass da eine Konkurrenz entsteht», räumt Heinrich Funk ein, der Leiter der Baden-Badener Clara-Schumann-Musikschule. Doch man profitiert davon: Einige Schüler waren erst im «Toccarion» - und wollten dann Geige oder Klavier lernen. Inzwischen wird ein Besuch sogar in den staatlichen Schulen empfohlen.
Zumal Kinder hier auch Stars zum Anfassen haben, die nebenan im Festspielhaus gastieren. Das Konzept findet selbst der bedeutendste Vertreter der musikalischen Avantgarde überzeugend: Pierre Boulez kann sich ein «Toccarion» gut in New York vorstellen.