Wieder haben das Universitätsklinikum Leipzig, der Arbeitskreis für Musik in der Jugend (amj) und die Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy zum Symposium zur Kinder- und Jugendstimme eingeladen. Über 500 Ärzte, Logopäden und Musiktherapeuten, Sänger und Gesangspädagogen, Schulmusiker und Erzieher, in der Mehrzahl weiblich, treffen sich im ehrwürdigen Hauptgebäude der Musikhochschule in der Grassistraße erneut zu einer kompakten interdisziplinären Tagung, die ihresgleichen sucht. Dass die Veranstalter bei diesem 14. Leipziger Symposium etwa 100 Anmeldungen eine Absage erteilen mussten, zeigt die Aktualität des diesjährigen Schwerpunktthemas: „Die Stimme im pädagogischen Alltag“.
Mit dem Auftritt des berühmten Thomanerchors unter seinem ebenso exakt wie einfühlsam dirigierenden Interim-Kantor Gotthold Schwarz steht gleich zu Beginn ein musikalischer Hochgenuss. Mendelssohns Doppelquartett „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir“ aus dem „Elias“ und Bachs doppelchöriger Motette „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“ lassen sich auch als subtile Aufmunterung für leidgeprüfte Lehrkräfte verstehen. Vieles von dem, was die Mediziner, Ärzte und Therapeuten auf dem Podium über stimmliche Belastungen sagen, bestätigt vermutlich den Pädagogen, was sie schon geahnt, gespürt oder gewusst haben. Aber es ist doch etwas anderes, es aus berufenem Munde zu hören und durch solide Forschung bestätigt zu finden – auch wenn ein Teil der zuständigen Referenten, der sich mit dem Prinzip der didaktischen Reduktion noch nicht vertraut gemacht hat, seine Zuhörer standesgemäß mit dicht beschriebenen Powerpoint-Erzeugnissen traktiert und sie bestenfalls mit dem Satz tröstet: „Sie brauchen diese Folien nicht alle zu lesen.
Inhaltlich kommt immer noch eine ganze Menge an. Da ist zum Beispiel die vom Leiter des Symposiums, Prof. Dr. Michael Fuchs, vorgestellte Studie der HNO-Kliniken in Leipzig, Halle und Marburg zur Frage „Welche Faktoren beeinflussen die Gesundheit der Pädagogenstimme?“ Sie stellt fest: Stimmstörungen nehmen mit dem Lebensalter zu, sie finden sich eher in der Grundschule als in den weiterführenden Schulen, und sie sind häufiger, wenn vor Beginn des Lehramtsstudiums eine Tauglichkeitsuntersuchung unterblieben ist. Dass es phoniatrische Gutachten zur Stimmtauglichkeit vor Aufnahme eines Lehramtsstudiums überhaupt gibt, dass sie in der ehemaligen DDR die Regel waren und es an ostdeutschen Hochschulen zum Teil wieder sind, diese Tatsache ist für viele Kongressbesucher schon eine Überraschung. Es gibt aber auch Zuhörer, die die Reaktionen westdeutscher Bildungsministerien auf entsprechende Forderungen zu zitieren wissen: „Die Lehrer sollen Bonbons lutschen.“ Oder: „Jeder soll studieren können, was er will.“
Dabei versperrt ein negatives Gutachten den Weg ins Lehramtsstudium nicht automatisch. Die Leipziger Uniklinik, berichtet Fuchs, schickt diese Kandidaten zur Stimmtherapie und erstellt nach zumeist erfolgreicher Behandlung eine neue Expertise. Im größeren Zusammenhang gesehen wäre der Aufwand für das Gutachten sogar eine lohnende Investition. Immerhin sind 16 Prozent aller Berufstätigen in Lehr- oder Erzieherberufen tätig. Weniger Stimmschäden bei diesem Personenkreis führen zu weniger Ausfallzeiten, zu besseren stimmlichen Vorbildern und einem besseren Hörverständnis bei Zöglingen und Schülern. Keinen signifikanten Einfluss auf Stimmschäden fand die Studie interessanterweise bei der Wochenstundenzahl, der Klassenstärke, der Raumakustik, bei fachfremdem Unterricht, oder bei einem stimmintensiven Fach wie Sport oder Musik. (Möglicherweise entwickeln Lehrer der letztgenannten Fächer ihre eigenen stimmschonenden Strategien.) Andere Referentinnen oder Referenten stellen abweichende Erfahrungswerte dar. Demnach sind zeitliche Aspekte (neben der Anzahl der Berufsjahre auch das tägliche Sprechpensum), akustische Bedingungen (neben der Räumlichkeit auch die Lärmintensität) und psychische Belastungen im Kita- und Schulbereich von Bedeutung. Interessanterweise wurden letztere erst im September 2013 ins Arbeitsschutzgesetz aufgenommen; seitdem heißt es in § 4 Abs. 1: „Die Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird.“
Die im Februar 2013 von der Kultusministerkonferenz verabschiedete „Richtlinie zur Sicherheit im Unterricht“ (RiSU) weiß von diesem Faktor noch nichts. (Und man darf wohl gespannt sein, wann die KMK dieses bislang unvermutete Problem „entdeckt“.) Sie hat aber immerhin den Faktor „Lärm“ im Blick. Zur Vermeidung von Lärmschäden sollen vorrangig technische und organisatorische Maßnahmen ergriffen werden, ansonsten ist auch an einen Gehörschutz zu denken. In seinem Vortrag „Stimme und Hören in der zweiten Hälfte des Berufslebens“ verweist Michael Fuchs warnend auf die Irreversibilität von Gehörschäden. Prof. Dr. Malte Kob, an der Musikhochschule Detmold zuständig für die Theorie der Musikübertragung, referiert sehr anschaulich über Probleme der Raumakustik, und Siegrun Lemke, Leiterin des Bereichs Sprechwissenschaft an der Universität Leipzig, plädiert nachdrücklich für das SoundField-System, das die Lehrerstimme in automatischer Anpassung an die Hintergrundgeräusche des Raumes unauffällig verstärkt.
Ganz praktische Erfahrungen und Ansätze für Lehrkräfte und Therapeuten vermitteln die vier im Rotationssystem angebotenen Workshops. Die vielseitige Berliner Sängerin und Stimmtrainerin Johanna Seiler trainiert mit den Teilnehmern erfolgreich Möglichkeiten der Vokal-Improvisation in der Gruppe; sie beschreibt diese Praxis als „ein geschütztes, nonverbales Feld zum Überqueren und Auflösen gefühlt bestehender individueller Grenzen“. Die Münchner Gesangspädagogin Evemarie Haupt führt in ihr aus langer Berufserfahrung erwachsenes Konzept der Integrativen Stimmtherapie und -pädagogik ein, das sie sinnfällig mit Methoden aus der chinesischen Bewegungs- und Konzentrationsmethode Qigong verknüpft. Die Berliner Gymnasiallehrerin Micaëla Grohé stellt auf unterhaltsam-instruktive Weise Praxis-Situationen und Analyse-Modelle zum schulischen Alltag vor und geht wach auf die Teilnehmer-Impulse ein. Juan M. V. Garcia, Jazzsänger, Musikpädagoge und Leiter des Jazzchors der Leipziger Musikhochschule, präsentiert und probiert in seienem Workshop unter dem Titel „Spielend in den Jazz“ ein ebenso motivierendes wie durchdachtes Konzept für das stimmliche Warm-Up.
Die Wuppertaler Gesangspädagogin Hayat Chaoui, Tochter marrokanischer Eltern, begrüßt zu ihrem Vortrag „Bereicherungen und Herausforderungen im interkulturellen Singen“ das Auditorium nicht nur in arabischer Sprache, sondern animiert es sogar zum Singen. So ähnlich müssen sich etliche Flüchtlinge und Immigranten in Deutschland fühlen. Ohne ein Wort zu verstehen, begreifen sie doch, ob sie willkommen sind. In deutscher Sprache macht Chaoui dann aufmerksam auf interkulturelle Unterschiede in Lautstärke und Stimmfrequenz, die viel Raum für Missverständnisse lassen. Sie weist hin auf die zahlreichen Gesangskulturen außerhalb des Belcanto (vom sibirischen und mongolischen Kehl- und Obertongesang bis zum an verschiedensten Stellen der Welt praktizierten Jodeln) und berichtet von ihrer Arbeit mit Migrantinnen in ihren Wuppertaler Projekten KiWi („Kinder und Wiegenlieder“) und WoW („Women of Wuppertal“). „Singen“, sagt sie, „hat mehr denn je das Potenzial, Menschen, egal welcher Herkunft, eine gemeinsame Heimat zu bieten.“ Um so weit zu kommen, bräuchten Gesangspädagogen aber möglichst eine Ausbildung in verschiedenen Stimm- und Gesangsästhetiken, eine interkulturelle Sensibilisierung und geeignete Strukturen für offene Angebote.
Von einer aggressiven Stimmung gegen „Ausländer“ ist im traditionell weltoffenen Leipzig an diesem Wochenende nichts zu spüren. Dennoch kann man die rechtspopulistischen Stimmungen und rechtsextremistischen Übergriffe der letzten Zeit auch in der ausgesprochenen harmonischen Stimmung des Symposiums nicht ausblenden. Michael Fuchs erklärt schon bei der Eröffnung im Namen des Vorbereitungsteams: „Was an vielen Orten in unserem Land passiert, beschämt mich, beschämt uns. Wir werden im kleinen Kreis das möglichste tun, den Flüchtlingen einen freundlichen Empfang zu bereiten.“ In seinem sehr persönlichen Vortrag „Sing doch, was du willst“, der mir im Nachhinein als das pädagogische Herzstück der Veranstaltung erscheint, bekennt Robert Göstl, Professor für Kinderchorleitung an der Musikhochschule Köln, zum ersten Mal seit dem Reaktor-Unglück von Tschernobyl 1986 mache ihm wieder Angst, was in der Welt geschieht. „Wir haben keine Flüchtlingskrise, andere in der Welt haben sie“, mahnt er eine Verhältnismäßigkeit in der Auseinandersetzung an. Doch über Jahrzehnte hinweg hätten wir Kälte und Entpersonalisierung in der Gesellschaft zugelassen. „Die Menschen werden schwach, schreien, schlagen um sich.“ Eine Möglichkeit, kultivierend damit umzugehen, sieht er in der Musik – „Sing doch,was du willst“ im Sinne von „Red’ nicht drüber, sing.“
Göstl beleuchtet seinen Vortragstitel von verschiedenen Seiten: „Was will ich mit dem, was ich tue? Wird die Welt durch das, was Du tust, eine Spur besser?“ Sänger seien oft darauf fixiert, alles „richtig“ zu machen, und vergäßen über dem durchaus wichtigen technischen Vordergrund zwei weitere Dimensionen: den kommunikationstechnisch-psychologischen Hintergrund und den menschen- und lebensbejahenden Tiefgrund. Was er damit meint, deutet der Kölner Gesangspädagoge auch sängerisch an. So kauert er sich zum Beispiel auf den Klavierhocker und trägt ganz in sich gekehrt das Spiritual „Sometimes I feel like a motherless child“ vor, im Nachhinein ergänzt durch den Hinweis auf die minderjährigen Flüchtlinge, die seine Ehefrau betreut. Es sei immer wieder wichtig, in pädagogischen Alltagssituationen einen geschützten Raum zu schaffen. Chorleiter lechzten oft nach „neuen Übungen“, sagt Göstl, und blieben mit deren schneller Verwendung oft an der Oberfläche. Denn eigentlich brauche es vier Schritte: „Ich lerne es kennen. – Ich probiere es aus. – Ich verinnerliche es. – Ich überlege die Vermittlung.“ Am Ende steht (sehr gezielt) eine Powerpoint-Folie mit den „7 Ja-Sensoren“ der Werbewirtschaft. Sympathie und Interesse zu wecken – darin liegt die künstlerische und pädagogische Aufgabe.
Entspannung findet der Kongress am Samstagabend beim Konzert von Anna Mateur und Band. Beeindruckend sind Bühnenpräsenz, Vielseitigkeit und Stimmkraft der Dresdener Sängerin und Kabarettistin. Es gibt viel zu lachen, wenn sie den klassischen Sänger-Habitus parodiert, die beleidigte Pädagogin, die sexy Popdiva oder das unbedarfte Mädchen aus Jena-Lobeda spielt oder wenn sie mit einem „deutschen Hip Hop für deutsche Hörer“ den ressentimentgeladenen Provinzialismus unter der jüngeren Generation karikiert. Zuweilen bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Stimmungsvoll ist schon das Gute-Nacht-Lied am Vorabend: Helmut Steger und Nils Ole Peters studieren mit den Teilnehmern den dorischen Vokalisen-Kanon „Ja dan duia“ der finnischen Komponistin Soili Perkiö ein. Das Lied wird zum Ohrwurm; Malte Kob greift es in seinem Akustik-Vortrag wieder auf. Dass das Symposium eine runde Sache war, wird spätestens am Sonntag kurz nach 14 Uhr deutlich. Michael Fuchs hat schon die Abschiedsworte gesprochen und in der „großen Bayreuther Vorhang-Ordnung“ die Mitwirkenden gewürdigt, der Leipziger Lehrerchor hat sein ansprechendes 20-Minuten Programm mit Liedsätzen verschiedener Thomas-Kantoren beendet – da beginnt es noch einmal spontan auf der Saal-Empore: „Ja dan duia“
Ausgewählte Vorträge und Workshops demnächst unter www.nmzmedia.de