Bei „Oper im Koffer“ [´op:a im ´koffa] (OiK) handelt es sich nicht um einen Krimi, in dem die Leiche eines alten Opas im Koffer entsorgt wird. OiK ist vielmehr ein mehrstufiges Pilotprojekt in der Kulturarbeit mit alten Menschen. Weil sie nicht mehr in die Oper gehen können oder vielleicht noch gar nie in ihrem Leben in der Oper waren, kommt die Oper zu ihnen ins Alten- oder Pflegeheim. Initiiert wurde OiK vom Evangelischen Bildungswerk München e.V. in enger Zusammenarbeit mit der Berliner Musiktheaterpädagogin Iris Winkler. Ausprobiert wurden die Methoden erstmals in der „Musikstunde“, die Insuk Lee, Dozent für Elementare Musikpädagogik an der Musikhochschule München in einem Münchner Pflegeheim seit über zehn Jahren betreut.
Das Evangelische Bildungswerk München hat es sich zur Aufgabe gemacht, Ehrenamtliche für die kulturelle Altenarbeit weiterzubilden. Ein seit vielen Jahren bewährtes Instrument ist der so genannte „Kulturführerschein“. Konzeptionell fanden Sabine Sautter vom EBW und Iris Winkler schnell Übereinstimmung: „Nicht nur Profis, auch Laien haben das Recht, Kunst und Kultur zu interpretieren“, schreibt Sabine Sautter in der Einführung des Handbuchs „Abenteuer Kultur“ (Neu-Ulm, 2007). Das gelingt am besten, indem die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten selber erprobt werden. In Opern-Workshops der Szenischen Interpretation werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer motiviert, in die Rollen von Opernfiguren zu schlüpfen, sich zu verkleiden, zu bewegen, zu singen und zu spielen. Ziel ist es, herauszufinden, worum es in einer Oper geht und was die Gesamtszenerie mit dem individuellen Leben der Zuschauer zu tun haben kann.
Die Altersgruppe der Senioren unterteilt sich in mehrere Generationen: Das Dritte Lebensalter meint die aktive Lebensphase nach Beruf und Kindererziehung, das Vierte Lebensalter die Zeit, in der die Bewältigung des Alltags Unterstützung braucht. Für die Ältesten wurden Methoden entwickelt, die niedrig schwellige Zugänge ermöglichen, sinnlich und anregend sind.
Exemplarisch wurden mit der von Insuk Lee geleiteten Seniorengruppe vielseitige Zugangswege zu Puccinis meistgespielter Oper „La Bohème“ erarbeitet. Der Inhalt bezieht sich auf existenzielle menschliche Themen wie Liebe und Tod, Jugend und Krankheit. Sie enthält Gegensatzpaare wie Wärme und Kälte, Liebe und Einsamkeit, die sich für elementare Methoden sehr gut eignen. Je älter Menschen werden, umso weiter schreiten sie in der Erinnerung zurück in ihre Jugend- und Kinderzeit. Gleichzeitig ist der Gedanke an das Sterben präsent.
Da viele Hochaltrige demenziell erkrankt sind, ist der Ansporn besonders groß, nicht nur den Geist, sondern alle Sinne anzusprechen. Ausgangspunkt bildete deshalb die erste Berührung der Liebenden und der Arienbeginn Rodolfos: „Wie eiskalt ist dies Händchen“.
Pilotprojekt im Pflegeheim
Da sich die rund 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Insuk Lees Musikstunde schon seit vielen Jahren kennen und mit ihm musizieren, konnte bei diesem Projekt leicht an Vertrautes angeknüpft werden. Verteilt über vier Wochen beschäftigte sich die Gruppe im Juli 2008 in drei Musikstunden mit der Oper und war so bestens vorbereitet auf eine abschließende Matinee. Diese gab der Veranstaltung den zusätzlichen Sinn, ehrenamtliche Helfer und Verwandte einzuladen, um sich für ihren Einsatz im Heim zu bedanken.
Für die Anregung unterschiedlicher Sinneseindrücke waren viele Materialien vorbereitet. Die gestaltete Mitte bildete ein mit rotem Samt ausgelegter Koffer, in dem eine Schreibfeder, ein Stickrahmen, Kerzen und ein Schlüssel ausgestellt waren. Neben dem Anhören ausgewählter kurzer Musikpassagen via CD in deutscher Sprache bildete das Zentrum ein eigens angefertigtes Bühnenbildmodell des Künstlers Peter Sommerer. Dazu gehören Figurinen, Requisiten wie zum Beispiel ein Ofen und ein Bett sowie eine Auswahl verschiedener Stoffe. Die thematischen Schwerpunkte der drei Stunden:
- Einführung der neuen Gesichter; Wahrnehmung der Hände von kalten und warmen Gegenständen; erste zärtliche Berührung und Beginn der Beziehung zwischen Rodolfo und Mimi
- Anschaulichkeit der Figuren und Anfangssituation in einem Bühnenbildmodell; Schreiben als Tätigkeit und rhythmische Bewegung des Dichters Rodolfo, Nähen der Blumenstickerin Mimi
- Erzählen der Handlung im Bühnenmodell; Gaben für die sterbende Mimi; Töne als Abschiedsgeschenk; Erinnerung des Liebespaares an die erste Begegnung. Persönliche Einladung zur Matinee.
Mehrfach wurde gesungen; die Arienanfänge von Rodolfo („Wie eiskalt …“) und Mimi („Man nennt mich …“) wurden geübt und neue Texte improvisierend ergänzt.
Die Musikstunden wurden gemeinsam von Insuk Lee und Iris Winkler geleitet. Unerlässlich war dabei die Schar der Helferinnen, die sich zum Teil vom Pflegeheim, überwiegend aus Studentinnen der EMP und Hospitantinnen des EBW zusammensetze. Sie holten die Seniorinnen und Senioren aus ihren Zimmern zur Musikstunde ab und begleiteten sie anschließend zurück. Bei allen Aufgaben war ihre einfühlsame Hilfe gefordert. Vor allem waren sie in der Lage, einzelne Teilnehmerinnen und Teilnehmer genau zu beobachten in ihrem Verhalten und ihren Reaktionen auf die unterschiedlichen Formen der Anreize durch Sprache, Musik, Berührungen, Optisches und Haptisches. Jede Musikstunde wurde im Anschluss gemeinsam ausgewertet. Die Beobachtungen wurden auch als Grundlage bei der Vorbereitung der folgenden Stunde verwendet. Deutlich war die Gesamtentwicklung zu spüren, mit der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Mal zu Mal erwartungsvoller, konzentrierter und wacher bei der Sache waren.
Die Matinee
Alle Gäste waren aufgefordert, sich schön zu machen. Der Raum war mit Tüchern und Blumen geschmückt. Bevor das moderierte Konzert begann, sangen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Musikstunde ihr Begrüßungslied. Die Sopranistin und Pianistin kamen aus den Reihen der Studentinnen, dazu engagiert wurde ein Tenor. Gekleidet mit den bereits bekannten Stoffen Mimis und Rodolfos interpretierten die Musiker die bereits gehörten Arien sowie das anschließende Liebesduett „Oh du süßestes Mädchen“. Gestaffelt wurde der musikalische Vortrag durch kurze Gespräche mit der Moderatorin und minimale szenische Aktionen. Das Programm dauerte eine knappe Dreiviertelstunde. Während dieser Zeit herrschte vollkommen gespannte Stille und höchste Aufmerksamkeit.
Reaktionen
Schon im Vorfeld erwarteten die alten Menschen den Besuch der Matinee mit Spannung: Ein Herr lieh sich eigens zu diesem Anlass ein weißes Hemd. Ohne die vorbereitenden Musikstunden wäre der Verlauf der Matinee erfahrungsgemäß mehrfach unterbrochen worden durch ratlose („Was soll das?“) oder gar abwehrende Kommentare („Spielt die immer noch?“). Im Anschluss genossen die Gäste die Aufmerksamkeit des Hauses, deren Leitung ein Buffet gestiftet hatte. Angeregt plaudernd und in gelöster Stimmung wirkte das gemeinsame Erlebnis noch nach. Manche Teilnehmerinnen waren voll Dankbarkeit aufgrund der bewusst empfundenen Alterseinschränkungen, die einen „echten“ Opern- oder Konzertbesuch unmöglich machen. Andere haben die Erfahrung schwungvoll mit der ihnen eigenen Phantasie und Vorstellungskraft integriert: „Ich gehe jede Woche mit meinen Freundinnen in die Oper!“. Bei den meisten hat die Begegnung mit dem Liebespaar der Oper Erinnerungen an ihre eigenen Beziehungen wachgerufen. Die-
se wurden keck als aufregendes Geheimnis verpackt, brachten manchem Glanz in die Augen und spendeten anderen Trost angesichts des Verlustes der eigenen Partnerin. Die wachsende Nähe über die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Oper und die tatsächliche Berührung mit den anderen Teilnehmern erlebten alle als wohltuend.
Fortbildung
Die Fortbildung mit Altenpflegern, Ehrenamtlichen, Ergotherapeuten und anderen Multiplikatorinnen stieß auf breites Interesse. Viele Opernliebhaber unter ihnen stellten sich die Frage, wie sich ein so komplexes Kunstwerk in die Welt des Altenheims transportieren lässt. Ermutigt von Berichten und selbst nachvollzogenen Übungen entwickelten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Kleingruppen eigene Ideen. Deren Bandbreite reichte von perfekten Stundenkonzepten bis zu der ungelösten Frage, wie man szenische „Ersatzhandlungen“ für dramatische Höhepunkte findet. Die Teilnehmerinnen erfuhren an sich selbst, wie genau man eine Oper durch die vorgestellten Methoden kennenlernt. Um sich bei zukünftigen Projekten gegenseitig zu helfen und voneinander zu lernen, wurde ein Netzwerk der Fortbildungsteilnehmer gegründet.
Fazit
Das Pilotprojekt im Münchner St. Josefsheim, das durch die Zusammenarbeit mit Insuk Lee ermöglicht wurde, erlebten alle Beteiligten als Bereicherung, auch auf Seiten der Durchführenden und Helferinnen. Die aufrichtige Wertschätzung gegenüber den alten Menschen, die sich auf diese Arbeit einlassen, ist deshalb nicht hoch genug zu veranschlagen. Das Kunstwerk Oper ist dann für die Altenarbeit geeignet, wenn es als Kommunikations- und Erfahrungsgegenstand betrachtet wird. Nicht das Erlebnis des kulturellen Ausfluges, sondern Musik und Thematik der Oper stehen im Vordergrund.
Eine DVD über die Modellstunden von „Oper im Koffer“ kann beim EBW ausgeliehen werden: www.ebw-muenchen.de