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Verwicklungen in der Musiklehrkräftebildung

Untertitel
Plädoyer für eine evidenzbasierte Studiengangsentwicklung · Von Bernd Clausen und Thorsten Wagner
Vorspann / Teaser

In den letzten Wochen echot in unseren Ohren der auffordernde Titel eines Beitrages von Barbara Haack in der Oktoberausgabe der nmz 2022: „Machen Sie was!“ Der kurze Text rekurrierte auf die zu der Zeit in rascher Abfolge stattgefundenen Tagungen der BFG, der ALMS sowie des AMPF und des BMU. „Machen Sie was!“ war das Schüler-Zitat am Ende einer Präsentation, in der es um Forschungsergebnisse zur Eignungsprüfung geht und damit dem Aufzeigen der Notwendigkeit, dass an dieser Stelle etwas getan werden muss. Uns geht der Titel weniger wegen des heißen Themas Zulassungsvoraussetzungen zum Lehramtsstudium Musik nicht aus dem Kopf. Der Ausruf „Machen Sie was“ ist eher Ansporn für uns vor Ort, und ist zugleich bezeichnend für die Wahrnehmung von Stagnation.

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Diskursive Curriculumentwicklung für eine innovative Musiklehrkräftebildung ist kaum sichtbar, nicht selten hoch konfliktär und vor allem akteursabhängig. Was wir also nachfolgend kursorisch ansprechen, mag an anderen lehramtsbildenden Standorten auf ganz andere Voraussetzungen und Konstellationen treffen. Auch geht es uns nicht um eine Kritik an den an der Musiklehrkräftebildung beteiligten Schwesterdisziplinen. Wir plädieren für eine stärker evidenzbasierte Studiengangsentwicklung und weniger eine, die sich auf Meinungen über das, was Musiklehrkräfte sein sollten, bezieht. 

Machen Sie was!

Untätig sind weder die musikpädagogische Forschung noch die oben genannten Verbände gewesen. Auf die Befunde von Untersuchungen haben die berufspolitischen Interessengruppen stets reagiert, so auch in diesem Jahr: Der Deutsche Musikrat setzte im Frühjahr 2023 die Initiative #SchuleNeuDenken# in Bewegung. Informationen und Veranstaltungen aller Verbände sind über die jeweiligen Homepages, mehr noch, in den Social Media zu verfolgen und verzeichnen zum Teil beeindruckende Follower-Zahlen und Reaktionen. Es ist aber symptomatisch, wenn man aus Schüler- oder Lehrer*innensicht auf die Musiklehrkräftebildung schaut: Es kommt von den Innovationsbemühungen in den Schulen – das liegt am deutschen Bildungswesen – zu spät oder nie etwas an. „Machen Sie was!“ hat also seine Berechtigung und könnte vielleicht zum Mantra von Hochschullehrenden werden. Ausfallender oder fachfremd erteilter Musikunterricht sowie der Mangel an Musiklehrkräften, insbesondere im Primarbereich, sind Fakten. Wieder einmal, muss man sagen, denn ein knapper Blick in die Verbandsmitteilungen seit den 1950er Jahren zeigt, dass diese und andere Themen immer wiederkehren. Das frustriert auf der einen Seite, auf der anderen ist es Impuls gerade jetzt, mit einer breiteren empirischen Basis zu argumentieren und zu entwickeln. 

Genau 100 Jahre nachdem aus dem Sing- oder Gesangunterricht ein Musikunterricht wurde, ist festzustellen, dass das Bewusstsein, ja, erst recht der Stolz darauf, dass die Reformen von 1922 bis 1925 eine kulturelle Errungenschaft sind, zu schwinden scheint. Ermattung und Ernüchterung stellen sich angesichts absurder Situationen in den Schulen und Hochschulen ein oder im Hinblick auf das groteske Wording von Musik als Talentfach im Umfeld von Leistungserhebung. 

Mit den Reformen von Leo Kestenberg und seinem Team ergibt sich doch für uns Nachgeborene zwingend die Verantwortung, an diesem Projekt weiterzuarbeiten – und damit unter Umständen Dinge zurückzulassen. Die Überzeugung nämlich, dass Musikunterricht einen Weltzugang und ein Weltverstehen ermöglicht, das gesellschaftlich hochrelevant ist, ist nicht weniger gültig als zu Kestenbergs Zeiten, auch wenn Musiken als soziale Praxen medialisierter, globaler und (ganz grundsätzlich) digital geworden sind. „Machen Sie was!“, diese nmz-Aufforderung, bedeutet, Zielrichtung und Ausgestaltung von Eignungsfeststellungsverfahren, Vernetzung von Lehr-/Lerninhalten und künstlerische Praxen kritisch – das heißt, vor dem Hintergrund der Aufgabe von Schule und den gesellschaftlichen Gegebenheiten – zu reflektieren und mit den Erträgen dieser Denkarbeit Studiengangs(weiter)entwicklung für die Zukunft zu betreiben.

Mutige Musikpädagogik

Wird tatsächlich gemacht, was dieser Ausruf evoziert, dann stoßen die daran Beteiligten, zumeist wohl Akteur*innen aus der Musikpädagogik, in den künstlerischen und wissenschaftlichen Hochschulen auf Widerstände oder werden grundlegend missverstanden. Aber warum eigentlich? 

Vielleicht, weil bei Musik(lehrkräf­tebildung) jede*r mitreden will. Man hat schließlich Kinder in der Schule (gehabt) oder hat mal (vor 30 Jahren) Schulmusik studiert, dies aber nicht zu seinem Beruf gemacht. Die Absurdität solcher Begründungen könnte weiter illustriert werden, aber professionelles Tun anhand derlei Maßstäbe auszurichten, ist fahrlässig und damit schlicht unverantwortlich. Umgekehrt gefragt: Warum setzen Musikpädagog*innen mit dem Wissen und den Erkenntnissen von über 40 Jahren musikpädagogischer Forschung die Impulse für die Weiterentwicklung der Musiklehrkräftebildung nicht pointierter? Wer sonst hat diese Expertise? Weder die Musikwissenschaft(en), noch die Musiktheorie, noch die künstlerischen Praxen haben sie, weil sie nur fahrlässige Abbilddidaktik betreiben könnten. Zu ihnen bestehen gleichwohl Bezüge. 

Was Planung, Durchführung und Evaluation von Musikunterricht bedeutet, welche Prinzipien dem musikpädagogischen Handeln zu Grunde liegen et cetera – das sind Fragen, auf die die Musikpädagogik mit der ihr verbundenen Musikdidaktik Antworten bereitstellt. Weder die Musikwissenschaft(en) noch die Musiktheorie können – selbstredend – aus sich selbst heraus darauf Antwort geben. Denn sie sind selbstständige Disziplinen mit eigenständigen Fragestellungen. Werden ihre Gegenstände und Fragestellungen allerdings blind Teil von Musiklehrkräftebildung, so müssen sie sich fragen lassen, was sie zum Professionalisierungsgeschehen von zukünftigen Musiklehrer*innen vor dem Hintergrund von allgemein akzeptierten musikpädagogischen Prinzipien beitragen können. Zugleich hat die Musikpädagogik Veränderungen und Neuausrichtungen dieser Disziplinen zur Kenntnis zu nehmen. Das kann zur Konsequenz haben, sich neuen Ansätzen in den Musikwissenschaften und der Musiktheorie zu öffnen und eben nicht gewohnten Schienen zu folgen.

Die Vorstellung eines sich in den Köpfen von Studierenden selbständig vollziehenden Zusammenführens einzelner Wissens- und Erfahrungsbestände wird zwar immer wieder behauptet, lässt sie jedoch empirisch nicht belegen, und damit ist diese Annahme mindestens zweifelhaft. Auf die sich daraus ergebene Notwendigkeit von Kohärenz zwischen den einzelnen Kompetenzbereichen in der Musiklehrkräftebildung wurde in den letzten Jahren wiederholt aufmerksam gemacht. Das ist übrigens keine Meinung, sondern Kohärenz und Relationierung sind in der Lehrkräftebildung vielfach dargestellt und untersucht.

Apropos Meinungen 

Nimmt man die einzelnen Domänen in der Musiklehrkräftebildung genauer unter die Lupe – und die BFG hat dies kürzlich getan –, dann kann derweil auf breitere musikpädagogische Forschungsergebnisse zurückgegriffen werden als noch in der Curriculum-Reform der 1970er Jahre. Nur stößt die Haltung einer Evidenz berücksichtigenden Musiklehrkräftebildung nicht selten auf Abwehr, ihr werden aus Angst oder aus Borniertheit bröckelige Meinungen oder so genannte Überzeugungen entgegengesetzt. Man erschauert gelegentlich, insbesondere, wenn an einer wissenschaftlichen Hochschule grundlegende Erkenntnisse der Lehr-/Lernforschung, beispielsweise ein Verständnis von Lernen als grundsätzlich konstruktivistisch, nicht wahrgenommen wird, geschweige denn verstanden wird, was dies musikdidaktisch bedeutet. Das ist dann vielleicht auch nicht die Aufgabe der anderen Fachwissenschaften, dies im Detail nachzuvollziehen. Aber es fehlt den beteiligten Bezugsdisziplinen mitunter das Verständnis für die bereits längst stattgefundenen musikpädagogischen Paradigmenwechsel.

Kritik an der Historischen Musikwissenschaft in den Lehramtsstudiengängen gab es ebenso wie hoffnungsvolle Verständigungsbemühungen – und dies seit mehreren Jahrzehnten. Die Stereotypen von Musiktheorie wurden verschiedentlich empirisch untersucht und provozieren mindestens Nachdenklichkeit auf musikpädagogischer Seite. Letztlich geht es um die Verständigung darüber, was in Zeiten von Kompetenzorientierung – und vor dem Hintergrund der zwar noch immer nicht ausreichenden, aber besseren Datenlage in der musikpädagogischen Forschung – zielführend für eine Initiierung von Professionalisierungsprozessen für Musiklehrkräfte ist. Doch hier scheiden sich die Geister: Meinungen zur Bedeutung von und zur Blickweise auf Musikgeschichte, zur Bedeutsamkeit von Generalbass und Funktionsharmonik sowie hochsubjektive Vorstellungen von Musikunterricht, die fest in der eigenen Biografie und Geschichte wurzeln, stehen musikpädagogischen Denkstilen gegenüber. Letztere sind zwar untereinander – wie es sich für eine Wissenschaft gehört – Gegenstand von Debatten. Aber hinter bestimmte Paradigmenwechseln kann schlichtweg nicht zurückgegangen werden, weil – sorry! –  (empirische) Evidenz vorliegt. Meinungen, etwa in Bezug auf spezifische Studieninhalte oder Kompetenzen, sind halt keine Fakten. Das wird in letzter Zeit an vielen Stellen vergessen. 

Das ist keine Kritik an den Disziplinen, es ist eine Kritik an der fehlenden Bereitschaft, die Musikpädagogik als Kerndisziplin in lehramtsbildenden Studiengängen zu akzeptieren. Das kann bedeuten, dass musikwissenschaftliche und musiktheoretische Kompetenz- und Inhaltsbereiche mitunter aus musikpädagogischer Perspektive anders gesehen werden. Ein echter Aushandlungsprozess kann geschehen, aber nur, wenn bestimmte Grundgegebenheiten anerkannt werden. Und selbstredend sprechen wir über Musiklehrkräftebildung und nicht -ausbildung, denn aus der Forderung nach Auseinandersetzung mit musikpädagogischen Grundgegebenheiten leitet sich eben nicht der gedankliche Kurzschluss nach „Verwertbarkeit“ ab. Vielmehr geht es in der Musiklehrkräftebildung um die Begleitung und Förderung einer Haltung des musikpädagogisch geleiteten Nachdenkens über Musik. (Die Forderung nach Haltung ist übrigens ebenfalls keine Meinung, sondern in der Lehrer*innenbildungsforschung mehrfach untersucht und findet sich im musikpädagogischen Diskurs ebenso wieder.)

Bei dem bisher Gesagten ist die künstlerische Praxis nicht im Blick gewesen. Hier deuten sich – auch an den eher konservativ ausgerichteten Musikhochschulen – zaghafte Bewegungen an. Aus unserer musikpädagogischen Perspektive ist die Herstellung musikpraktischer Professionalität in all der gebotenen Breite, die unsere globale und digitalisierte Welt kennzeichnet, nach wie vor Herzstück der Musiklehrkräftebildung. Aber auch hier werden nicht selten Phantomschmerzen artikuliert, denn diese Auffassung vermittelt weder Beschneidung noch den Untergang so genannter klassisch-westlicher Musizierformen, sondern eine Weitung. Wenn gelegentlich mit der ‚Klassik‘ groß gewordene Menschen sowohl ihre Sozialisation als auch ihr vor Jahrzehnten abgeschlossenes, aber nicht weiter verfolgtes Schulmusikstudium zum Maßstab curricularen Gestaltens machen, darf man fragen … warum? 

Kann dies ernsthaft Grundlage für eine auf die Zukunft hin ausgerichtete Studiengangsentwicklung sein? Wohl kaum. Dass Studieninteressierte mit bunten musizierpraktischen Biografien zusätzlich zu jenen, die wir alle gut kennen, auftauchen, sollte kein Stirnrunzeln hervorrufen, sondern vielmehr alle an der Musiklehrkräftebildung Beteiligte in Neugier und ins Grübeln darüber versetzen, was wir mit gebotener Professionalität als Hochschulen anbieten können. 

Und noch einmal: das heißt weder, das bisher Getane und Vertretene vollends über Bord zu werfen noch sollte es Anlass sein, in restaurative Argumentationsmuster zu verfallen. Es ist auch kein anbiederndes Reagieren auf Neues, denn das bloße Heischen nach Trends ist zum Scheitern verurteilt. 

Sich dem Angebotenen – und das sind die an Musik und am Beruf Musiklehrer:in interessierten Menschen – mit dem Wissens- und Erkenntnisstand zuzuwenden, den die musikpädagogische Forschung und die anderen Disziplinen dafür bieten und in dieser Haltung diskursive Studiengangsentwicklung zu betreiben, ist unserer Meinung nach Gebot der Stunde. Die Musikpädagogik darf nach 100 Jahren den Habitus des scheuen Rehs in der Ausgestaltung ihres Kerngeschäfts endlich einmal ablegen. Sie ist schließlich sich selbst die allererste Fachwissenschaft. 

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