Womit ist heute Staat (oder Stadt) zu machen? Darmstadt macht es vor. Jahrzehntelang stempelte dort die Deutsche Bundespost das Motto „In Darmstadt leben die Künste“ auf nahezu jeden Brief. Heute definiert sich die südhessische Großstadt, in der das Institut für Neue Musik und Musikerziehung seinen Sitz hat, als „Wissenschaftstadt“. Entsprechend erfreut zeigte sich Darmstadts Kulturreferent Prof. Ludger Hünnekens in seinem Grußwort zur 72. Frühjahrstagung des Instituts. Sie stand unter dem Motto „Erkundungen. Gegenwartsmusik als Forschung und Experiment“.
Für den Eröffnungsabend hat man ein altes Format mit Gewinn wieder belebt – eine Kombination von Konzert und Podiumsgespräch unter dem Titel „Forum Ästhetik“. Die Geigerin, Digitalkünstlerin und Kunstforscherin Barbara Lüneburg spielt auf ihrer E-Violine Auszüge aus ihrem Multimedia-Kunstwerk „Slices of Live“ (für Violine, Soundtrack und Video) und aus Marko Cicilianis Multimedia-Stück „Formula minus One“ (für E-Violine, Live-Elektronik und Live Video). Dazwischen und danach leitet Wolfgang Lessing ein lebendiges Roundtable-Gespräch mit Lüneburg, dem Philosophen Dieter Mersch und dem Neurobiologen Marc Bangert. Auch wenn Musik und Gespräch weitgehend unverbunden bleiben – der Abend macht Lust auf die Thematik.
Knapp zwei Tage nach Jörn Peter Hiekels enzyklopädisch geweitetem Einführungsvortrag und zahlreichen Beiträgen weiß man mehr: Das Motto ist schwer zu fassen, die Thematik stark verästelt, auch wenn es immer wieder Rückbezüge auf die Themen der vergangenen Jahre gibt. Die Vortragenden sind unterschiedlich gewillt oder in der Lage, die Hörer in ihre Denkbewegungen und Forschungsvorhaben mit hineinzunehmen. Dass ein verlesener wissenschaftlicher Aufsatz noch keinen brauchbaren Publikumsvortrag ausmacht, sollte sich eigentlich herumgesprochen haben. Gedruckte Thesenpapiere sind aus der Mode, aber die Bildschirmprojektionen sind oft schwer lesbar. Wenn dann noch mehrfach die Redezeit überzogen wird und Pausen und Diskussionen zu kurz kommen, macht sich Müdigkeit breit.
Da ist man froh, wie anschaulich und lebendig Hannes Seidl und Daniel Kötter die Arbeit an ihrem unkonventionellem Musiktheaterprojekt „Ökonomie des Handelns“ (einer gesellschaftskritischen Trilogie „Kredit“ – „Recht“ –„Liebe“) schildern. Hier kommt wieder Leben ins Auditorium. Abends gibt es dann von den beiden als Uraufführung mit dem „ensemble mosaik“ ein kürzeres Stück für Musiker und Film unter dem Titel „The audience“ zu hören. Im Programmheft liest es sich spannend und reflektiert, aber beim Ablauf drängt sich wie so oft das visuelle Element in den Vordergrund; man verfolgt das ziemlich naturalistische chinesische Szenario und nimmt die Begleitmusik wohlwollend zur Kenntnis. Spannender ist da tatsächlich am ersten Abend „Formula minus One“, wo Marko Ciciliani Filmsequenzen von der Formel 1 optisch und akustisch manipuliert und dekonstruiert.
Stärker als zumeist in den Vorjahren ist die Musikpädagogik ins Programm integriert. Leider gibt es nach Philipp Schäfflers notgedrungen knappem Vortrag über „Resonanz als Forschungsfeld für Musik und Pädagogik“ keine Gelegenheit zur Diskussion. Mehr Raum hat das Forschungsprojekt „Campus Neue Musik“ des INMM, das von Wolfgang Lessing und Matthias Handschick geleitet und vorgestellt wird; Hans Schneider und Jan Kopp referieren dann über ihre konkrete Arbeit mit einer Wiener Gymnasial- beziehungsweise einer Heidelberger Gesamtschulklasse. Die 5. (nach deutscher Zählung eine 9.) Klasse des Bundesreal- und Bundesgymnasium AHS Heustadelgasse aus dem Wiener Stadtteil Aspern ist sogar eigens angereist, um das Ergebnis im Foyer zu präsentieren.
Mit Gegenständen, einfachen Instrumenten und vorsichtig dosiertem Stimmeinsatz entfaltet sie in vorbildlicher Disziplin ein differenziertes Spielkonzept, dem man ein wenig mehr Ausdruck und Energie in der Ausführung gönnen möchte.
Auch in den kommenden beiden Jahren sollen jeweils von Januar bis April zwei Schülerkompositionsprojekte durchgeführt werden, in denen eine professionelle und erfahrene Künstlerpersönlichkeit mit einer Schulklasse und deren Lehrkraft zusammenarbeitet. Sie werden in Form von Interviews mit den Beteiligten, Tagebucheinträgen und Videografien umfassend dokumentiert und nach dem Prinzip der rekonstruktiven Sozialforschung empirisch begleitet. Dass die Vorhaben weitgehend in den regulären Musikunterricht eingebunden werden, erschwert einerseits das Durchbrechen schulischer Routinen; andererseits ermöglicht es realistische Erkenntnisse über das künstlerische Potenzial des ganz normalen Schulalltags. Oft genug täuschen ja hoch gelobte Leuchtturmprojekte über die Mühen, Nöte und Frustrationen des Musikunterrichts hinweg. Interessanterweise zeigt sich in der Diskussion ein weit verbreitetes Misstrauen gegenüber der Institution Schule, die in ihrer sprichwörtlichen Verschultheit gar keine ästhetischen Freiräume bieten könne, und immer wieder klingt die Forderung durch, Schülerinnen und Schüler von sämtlichen Vorgaben zu befreien und sie in keiner Weise einzuengen. Doch diese Vorstellung ignoriert nicht nur die praktischen Schwierigkeiten und Chancen, Kindern und Jugendlichen eine bislang unbekannte ästhetische Welt zu eröffnen. Sie übersieht auch die vielfältigen Zwänge und Bedingungszusammenhänge des Lebens außerhalb der Schule.
Wie stark etwa künstlerische Produktion, selbst in bislang ausgefallenen Bereichen und Sparten, sich an Hochschulen und Universitäten bindet, wird auf der Tagung deutlich. Und immer klarer entfaltet sich auch die Zwiespältigkeit des Tagungsmottos „Gegenwartsmusik als Forschung und Experiment“. Da meinen die einen, jede intensiv ausgeübte und reflektierte künstlerische Tätigkeit umfasse doch in irgendeiner Weise das Forschen und Experimentieren; die anderen hingegen suchen bewussten Anschluss an die experimentellen Verfahren der Naturwissenschaften und die instrumentellen Möglichkeiten der sogenannten Techno-Sciences. Demgegenüber beklagt der Philosoph Dieter Mersch die „Ver-Akademisierung der Künste“; gerade in einer technologischen und mathematisierten Welt gelte es, die Kunst als etwas zu retten, was mit philosophischem Denken und Weisheit verbunden sei. Noch schärfer formuliert es am zweiten, lebendigeren Konferenztag in seinem temperamentvollen, mit Beispielen trefflich untermauerten Vortrag der Wiener Komponist Peter Ablinger: „Mein Anliegen ist nicht die Produktion von Wissen, sondern von Nicht-Wissen.“ Und endlich entzündet sich ein lebhaftes Gespräch im Kleinen Saal der Akademie für Tonkunst.
Eine akademische Kontroverse? Von wegen! Wenige Tage später spricht im Radiosender Deutschlandfunk Kultur der Islamwissenschaftler Thomas Bauer zum Thema „Warum halten wir Ambiguitäten so schwer aus?“ Die Fähigkeit der Menschen, Widersprüchliches, Gegensätzliches, aber auch Uneindeutiges auszuhalten, nehme deutlich ab. Gegen Intoleranz, Fanatismus, Identitätsdruck, Wirtschaftsinteressen und technologische Zwänge gelte es, „Räume der Mehrdeutigkeit“ offenzuhalten, „wo dem Zweck-Mittel-Denken widersprochen wird: in der Kunst, Musik und Literatur“. Ein wichtiges Krisensymptom erwähnt Bauer gegen Ende des Interviews im Nebensatz: „Dass in der Schule am ehesten der Musikunterricht ausfällt.“