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Foto: Johannes Radsack
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Der Tag X wird für die Klassik nicht kommen

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Die Realität unseres künftigen Musiklebens liegt auf der Skala zwischen Soll und Haben – nur wo?
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Gucken wir in die Zukunft, so sehen wir die Vergangenheit – und vor unserem inneren Ohr hören wir die Rufe der Kassandra: Ende der Klassik. Musikbetrieb bricht zusammen. Überalterung des Publikums. Aussterben der Abonnenten. Kollaps der großen Schallplatten-Labels. Musikkritik in ihrer schwersten Krise.

Diese Rufe haben wir nun bis zum Überdruss gehört, manche Prophezeiung ist sogar in Erfüllung gegangen, aber die Gegenwart sieht nicht so aus, als werde sie mit einer Sense von der Zukunft getrennt. Kassandra hat nämlich eine pädagogische Aufgabe eingenommen: Sie hat alle sensibilisiert für den Tag X. Für den größten anzunehmenden Unfall. Für den Tod der Gattung Klassik, von der wir vielleicht verdrängt haben, wie sehr wir ihrer bedürfen und welchen Schatz für unser eigenes Leben und unsere Nachkommen sie birgt.

Die Gegenreaktion war erstaunlich. Vor allem bei der Schulung des Nachwuchses sind frappierende Resultate messbar. Im Ruhrgebiet hat die Initiative „Jedem Kind ein Instrument“ zu phänomenalen Ergebnissen geführt. Kinder- und Jugendkonzerte boomen. Neue Abonnenten werden gesichtet. So dürfen wir das Teleskop nicht ganz sorgenvoll einschalten und den Blick ins Jahr 2020 werfen. Was wird noch von Bestand sein? Stehen wir vor Scherben oder vor üppig gedeihenden Beeten?

Auf diese Frage gibt es nur Prognosen, und sie fallen von Ort zu Ort unterschiedlich aus. Das zentrale Problem: Wie werden es unsere Städte schaffen, trotz ihrer angespannten Finanzsituation einen Kulturbetrieb aufrecht zu erhalten, der diesen Namen verdient? Schauen wir uns paradigmatisch zwei Städte an: Berlin und Mönchengladbach. Und spielen wir Pythia.

Berlin wird blühen. Berlin blüht vom Kopf her, denn die Stadt hat die Philharmoniker, hat die Staatskapelle, hat ihre Opern, die Stadt zeigt, was sie hat, und das ist viel. Es wird Einschnitte geben, aber sie werden gering sein. Denn es gibt den Tourismus, junges Publikum, es gibt die Sehnsucht, ans angeblich Alte anzuschließen, es als neue postmoderne Feier, vielleicht sogar als Event zu entdecken und es nicht in die Krypta der Erinnerung zu sperren. Gewiss, immer mal wieder wird über die Notwendigkeit dreier Opernhäuser spekuliert, aber sie alle setzen alles daran, die spannenden Nischen zu sondieren. Es wird weiterhin der Wille aller Politiker sein, die geistige Macht der Stadt nicht zu opfern, und deshalb wird Berlin nicht verkümmern. Mönchengladbach hingegen wird untergehen. Mönchengladbach blüht zwar noch vom Kopf her, denn es hat mit Krefeld das älteste gut geführte Gemeinschaftstheater der Republik. Doch dieses Blühen ist einigen Politikern nichts wert, sie verweisen auf ihr eklatantes Haushaltsdefizit, auf die Unfinanzierbarkeit einer Kultur, die Tarifsteigerungen auffangen muss, und machen keinen Hehl aus der Tatsache, dass sie bei einer Entscheidung „Kindergartenplätze oder Theater“ das Erstere fördern würden, statt zu sagen: Diese Entscheidung stellt sich nicht, denn wir werden beides am Leben erhalten, das ist schließlich unser Auftrag. Die Bürger haben längst rebelliert, sie verweisen darauf, dass die Kinderkonzerte der Niederrheinischen Sinfoniker mehrfach gespielt werden könnten, so groß ist die Nachfrage, sie verweisen auf den Kulturauftrag. Macht nichts, die Politiker sind nicht stolz darauf, was ihnen die Kultur bereitet, sie rufen: Ihr müsst weiter sparen, das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht.

Tückisch ist vor allem das Argument, man möge im administrativen Bereich sparen, der künstlerische Bereich könne unangetastet bleiben. Wer derlei posaunt, hat den Betrieb nie von innen erlebt und zudem Angst davor, ihn kennenzulernen, denn ihm könnten die Augen aufgehen. Jede administrative Stelle gebiert Kunst. Wenn keiner mehr da ist, der eine Aushilfe für den erkrankten Solo-Oboisten herbeitelefoniert, muss die Aufführung abgesagt werden.

Wenn unsere Orchester, dem politischen Druck gehorchend, geschrumpft werden, dann werden gerade jene jungen, hochqualifizierten Musiker wieder entlassen, die erst vor Jahresfrist eingestellt wurden. In Mönchengladbach wird das passieren. Zudem wird das Theater wegen Sanierung für ein Jahr in ein Notquartier umziehen, und just für diese Umzugspielzeit wurden soeben – gegen die Ermahnung eines Gutachtens, das die Stadt selbst in Auftrag gegeben hatte – die Werbemittel gekürzt. Diese Ausweich-Saison droht deshalb mit Mindereinnahmen und Minderauslastung abzuschließen, und dann werden die Politiker sagen: Seht ihr, dieses Theater wird nicht benötigt! Und dann wird es peu à peu reduziert, und irgendwann werden die Politiker die Trümmer zusammenkehren, wie es der Borussia schon am Ende dieser Spielzeit widerfahren wird.

Zwischen diesen Extremen wird sich unser Land im Jahr 2020 befinden. Und keiner kann sagen, er habe es nicht in seiner Hand gehabt, ob er sich ein bisschen wie in Berlin oder in Mönchengladbach befinden darf. Die Realität liegt fraglos dazwischen, aber wo genau auf der Skala zwischen Soll und Haben, das wissen auch wir nicht.

Wolfram Goertz,
Musikredakteur der Rheinischen Post in Düsseldorf

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