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Das Jewish Chamber Orchestra Munich würdigt Weinberg (hier re. um 1967 mit dem Dirigenten Rudolf Barshai) am 9. Dezember, 20 Uhr mit einem Festkonzert. Foto: Olga Rakhalskaya
Das Jewish Chamber Orchestra Munich würdigt Weinberg (hier re. um 1967 mit dem Dirigenten Rudolf Barshai) am 9. Dezember, 20 Uhr mit einem Festkonzert. Foto: Olga Rakhalskaya
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Die Fackel der Erinnerung

Untertitel
Mieczysław Weinberg zum 100. Geburtstag · Von Christoph Schlüren
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September 1939. Unzählige polnische Flüchtlinge, darunter viele Juden, versuchten über die sowjetische Grenze dem Terror der deutschen Einheiten zu entkommen, noch nicht wirklich begreifend, dass sich der Feind auch auf der anderen Seite, wenngleich weniger entschlossen und konsequent, befand.

Der in Warschau aufgewachsene, noch nicht 20-jährige jüdische Komponist Mieczysław Weinberg (1919–1996) war alleine weitergeflohen, als seine Schwester wunde Füße bekommen hatte, und war bereits Zeuge schrecklicher Geschehnisse geworden. Dass die Nationalsozialisten seine ganze Familie auslöschten, sollte er erst viele Jahrzehnte später mit Gewissheit erfahren. Nun stand er also vor einem sowjetischen Grenzschützer, der ihn fragte: „Nachname?“ – „Weinberg.“ – „Vorname?“ – „Mieczys­ław.“ – „Mieczysław? Was heißt das? Sind Sie Jude?“ – „Ja, ich bin Jude.“ – „Dann heißen Sie Moisei.“ – „Moisei, Abram, wie immer Sie wollen, wenn ich nur sowjetischen Boden betreten darf.“ Und als er bekannter wurde, spielte man – in angelsächsischer Alliteration – forthin Werke von Moisei Vainberg, einem jener Sowjetkomponisten aus dem legendären Kreis um Schostakowitsch, die von Kennern schon seit Jahrzehnten als Geheimtipp gehandelt werden, im Falle Weinbergs dank des schwedischen Musikologen Per Skans.

Postume Anerkennung

In den 1960er-Jahren hatte Weinberg es in Moskau zu einem sehr geachteten Ruf gebracht, doch mit der zunehmenden offiziellen Anerkennung der führenden Vertreter der am Wes­ten orientierten Moderne (Denisov, Schnittke, Gubaidulina) geriet er schnell außer Mode, und vor allem im Westen hatte man fast gar kein Interesse an Komponisten, die als ans totalitäre Regime angepasst galten. Als hätte es eine andere Wahl gegeben, und natürlich auch infolge von überheblicher Unkenntnis, die in ihren groben Beurteilungsrastern keine Wahrnehmung für subtile Qualitäten aufwies. Die Auflösung der Sowjetunion und ihrer Verbände bedeutete für verdiente Altmeister wie ihn den weitgehenden finanziellen und gesellschaftlichen Ruin. Die breite Anerkennung seiner Musik erfolgte erst postum in mehreren Schritten; zunächst 1999 anlässlich seines 90. Geburtstags bei einem Weinberg-Festival in Moskau; dann 2006 für die Musikwissenschaft an der Eastman School of Music in Rochester, New York. Und schließlich, mit der nachhaltigsten Wirkung, ab 2009 in Westeuropa, zuerst in England mit der Uraufführung des Requiems und der Oper „Lady Magnesia“, dann 2010 unter der entdeckerfreudigen Leitung David Pountneys bei den Bregenzer Festspielen mit der szenischen Uraufführung eines Schlüsselwerks, der den Opfern von Auschwitz gewidmeten Medwedew-Oper „Die Passagierin“ von 1967/68 (siehe nmz 9/2010).

In der „Passagierin“ kommt es auf einem Atlantik-Passagierschiff zur Wiederbegegnung zwischen einer ehemaligen KZ-Aufseherin und ihrem einstigen Opfer Marta, und während der dramatischen Rückblenden der Handlung spielt am Höhepunkt Martas Geliebter Tadeusz die Chaconne von Bach, da wird seine Geige zerbrochen und man bringt ihn zu seiner Hinrichtung. Schostakowitsch berichtete darüber: „Ich habe […] ‚Die Passagierin‘ jetzt zum dritten Mal gehört, und mit jedem Mal wächst mein Staunen wie ein Crescendo! […] es ist eine wirkliche Oper geworden, ein Erfolg, dem alle früheren Werke Weinbergs den Weg gebahnt haben. Und abgesehen von seinen musikalischen Verdiensten ist dies ein Werk, das wir heute dringend benötigen.“

Bis dahin hatte sich Weinberg einen Namen als Symphoniker gemacht. Am 8. Dezember 1919 in eine Musikerfamilie hineingeboren, studierte er bereits als Elfjähriger am Warschauer Konservatorium. Nach der Flucht strandete er im September 1939 in Minsk, wo er bei Vassili Solotaryov Komposition studierte. Als die Deutschen dann auch Weißrussland überrannten, floh er ins usbekische Taschkent, wo er 1942 Natalya Wowsi-Michoels heiratete, die Tochter des großen Theatermanns Solomon Michoels. Nachdem Schostakowitsch 1943 Weinbergs 1. Symphonie gesehen hatte, lud er ihn nach Moskau ein, wo Weinberg forthin lebte und sie dauerhaft Freundschaft schlossen. Der stalinistische Nachkriegsterror nahm nun auch für die Komponisten höchst bedrohliche Ausmaße an, die 1948 zu den demütigenden Formalismus-Rügen gegen Schostakowitsch, Prokofieff, Chatschaturian und andere führten, von denen auch Weinberg betroffen war. Im selben Jahr wurde sein Schwiegervater vom Geheimdienst ermordet, und Stalins Paranoia wandte sich vehement gegen die jüdische Intelligentsia. 1953 wurde Weinberg verhaftet, doch er hatte Glück, denn Schostakowitsch intervenierte an höchster Stelle und Stalin starb. Obwohl auch er den Terror der sowjetischen Staatsmacht immer wieder zu spüren bekommen hatte, war er als russischer Staatsbürger seinen Landsleuten für immer dankbar, die ihn vor der Auslöschung durch die Nazis gerettet hatten.

Gewaltig und ergreifend

Von Mitte der Fünfziger- bis Mitte der Achtzigerjahre lässt sich sagen, dass der scheue Weinberg zum Establishment der sowjetischen Komponisten gehörte, selbstverständlich auch dank der engen Freundschaft mit Schostakowitsch, der ihm mindestens ebensolche Schätzung und Förderung zukommen ließ wie seinen hochbegabten Schülern Qara Qarayev, Revol Bunin und Boris Tschaikowsky oder später Boris Tishchenko. Weinbergs musikalisches Vermächtnis besteht hauptsächlich aus 22 Symphonien (die letzte postum orchestriert) und 17 Streichquartetten sowie 7 Opern von höchst unterschiedlichem Gewicht. Die Symphonien gliedern sich in rein instrumentale Werke und Vokal-Symphonien, deren Verständnis für die unter uns, die des Russischen nicht mächtig sind, erschwert ist, was auch für sein Requiem gilt. Mit den instrumentalen Symphonien Nr. 3 bis 5 erreichte er den ersten Höhepunkt seines Schaffens, und die 6., in der ein Kinderchor hinzutritt, ist eines seiner gewaltigsten und ergreifendsten Werke. Von Bedeutung sind auch seine Kammersymphonien, zu denen sowohl die Symphonien Nr. 2, 7 und 10 (alle für Streichorchester) zählen als auch die 4 späten, die tatsächlich ‚Kammersymphonie‘ heißen und großteils aus Überarbeitungen früherer Werke bestehen. Unter den späteren Symphonien seien die 1976 entstandene 12.‚ zum Gedenken an Schostakowitsch‘, die Symphonien-Trilogie im Gedenken an den Krieg (Nr. 17–19) und die den Opfern des Warschauer Ghettos zugeeignete, sechs Sätze in einem vereinigende und einen Vocalise-Sopran umschließende 21. Symphonie ‚Kaddish‘ genannt, in welcher genau jenes Chopin-Zitat umhergeistert, das elf Jahre später in Roman Polanskis Film „Der Pianist“ so bedeutungsvoll werden sollte. Das bedeutet aber keine Abwertung der anderen Symphonien.

Den Kammermusikern hat Weinberg außer seinen Quartetten ein leidenschaftliches Klavierquintett geschenkt, von welchem eine hinreißende Aufnahme des Borodin-Quartetts mit dem Komponisten überliefert ist, sowie unter anderem einen reichen Schatz an Duosonaten für Geige beziehungsweise Cello und Klavier und an Solosonaten für Geige, Bratsche, Cello und Klavier.

Kompromisslose Fahlheit

Stilistisch ist seine Musik, wie die der meisten Komponisten des Kreises um Schostakowitsch, der Musik dieses Komponisten, der damals schon als der überragende Meister des Jahrhunderts gepriesen wurde, erkennbar verwandt, auch in der Vorliebe für jüdische/jiddische Intonationen, wobei insbesondere Weinbergs Altersstil von einer zunehmend kompromisslosen Fahlheit gekennzeichnet ist, die dem animierend Musikantischen nur noch einen Platz unter mehreren gewährt. Weinbergs Musik steht symbolisch nicht nur für die Opfer und Überlebenden des Holocaust, sondern auch für die Opfer und Überlebenden des Krieges in Osteuropa, der gerade unter der polnischen, russischen, weißrussischen und ukrainischen Bevölkerung so bestialisch wütete und so unglaublich viele Opfer forderte. Diese Musik ist neben allem Reiz ihrer inspirierten Originalität zugleich Ausdruck eines kollektiven Traumas, das sich auch in den nachfolgenden Generationen niederschlagen sollte, und daher auch für den heutigen Hörer nicht nur rein musikalisch äußerst wertvoll, indem sie in ihrer schonungslosen, nackten Ehrlichkeit an tiefer liegende, unterbewusste Schichten unserer Existenz rührt. Insofern, auch in ihrer Doppelbödigkeit, berührt Weinberg sich wiederum stark mit Schostakowitsch, und es ist nicht übertrieben, die beiden als ‚Seelenverwandte‘ zu bezeichnen. Weinberg mag im großen Ganzen betrachtet nicht ganz die Vielseitigkeit und zündende Frische von Schostakowitsch besessen haben (aber welcher andere hätte dies vermocht?), doch hat seine Musik die Kraft, in unseren Konzertsälen die Menschen zutiefst zu berühren und aus ihrer Alltäglichkeit zu reißen.

Es taucht immer wieder die Frage auf – wie dies auch bei den Künstlern im Dritten Reich der Fall ist –, inwieweit sich die Komponisten in der Sow­jetunion von der herrschenden Ideologie vereinnahmen und missbrauchen ließen. Diese Frage kann verantwortlich nur stellen, wer die Demut hat, sich nicht anzumaßen, er hätte es besser gewusst, ohne dass dies in unserer Gesellschaft jemals geprüft worden wäre. Wie alle anderen sowjetischen Komponisten schrieb auch Weinberg das eine oder andere Werk, um ‚die eigene Haut zu retten‘, also zumindest als scheinbare Verherrlichung der stalinistischen Herrschaft, natürlich ganz in der Zeit um 1950, als sich keiner sicher sein konnte, ob er nicht bereits in der nächsten Nacht unter fadenscheinigen Gründen verhaftet und nach Sibirien deportiert oder gleich hingerichtet würde. Und doch hat er, wie Schostakowitsch, sich nie in so billig sich verkaufende Niederungen des Unkünstlerischen begeben, wie man dies von einigen seiner Kollegen sagen kann. Der Zerfall der Sowjetunion brachte ihm keine Erlösung, sondern vor allem materielle Sorgen ein.

Dass Weinbergs Musik nun seit einigen Jahren so nachdrücklich in Mode gekommen ist, war nicht vorauszusehen. Hätte man in den 1960er-Jahren gewettet, wessen 100. Geburtstag im Jahre 2019 besonders gefeiert würde, so hätte man dem Schweden Sven-Erik Bäck (1919–1994), der kein schlechterer Komponist ist, aber doch eine weit kompliziertere Tonsprache pflegte, gewiss bessere Chancen zugebilligt. Doch hier geht es mit Weinberg wie mit Schostakowitsch: Diese Musik erreicht ihre Hörer mühelos unmittelbar und spricht eine Sprache, die sofort vertraut erscheint, bewahrt aber zugleich ein Geheimnis, das uns dazu anhält, weiter neugierig zu sein. Musiker wie Gidon Kremer, Thomas Sanderling oder neuerdings Mirga Grazinyte-Tyla sind es, die heute seine Fackel der Erinnerung an die großen Traumata des 20. Jahrhunderts an prominenter Stelle weitertragen. Er hätte damit wohl nicht mehr gerechnet. 

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