Hätte man Sie 1999 gebeten, Ihre Einschätzungen über unsere Kultur- und Musiklandschaft im Jahr 2010 zu skizzieren – wie wären Ihre Prognosen damals ausgefallen? Haben Sie alles kommen sehen? Zum Beispiel die Beschleunigung der Marktdurchdringung derjenigen technischen Innovationen, die erheblichen Einfluss auf Kunst und Kultur haben?
Um die ersten 50 Millionen Geräte unters Volk zu bringen, benötigte man im Falle des Radios noch 38 Jahre, beim Fernseher nur 13 Jahre – das Internet schaffte es in vier Jahren, der iPod in nur drei und Facebook hatte bereits nach zwei Jahren 50 Millionen Nutzer. MySpace verfügt über 200 Millionen registrierte Nutzer – wäre MySpace eine Nation, entspräche ihre Bevölkerung dem fünftgrößten Land der Erde, zwischen Indonesien und Brasilien. Im Jahr 2006 wurden pro Monat „nur“ 2,6 Milliarden Suchbefehle über Google erteilt – mittlerweile sind es über 30 Milliarden. (Wem wurden diese Fragen eigentlich gestellt, bevor es Google gab?). Heute übersteigt die Zahl der täglich gesendeten SMS die Summe aller auf der Welt lebenden Menschen. Die Menge der verfügbaren technischen Informationen verdoppelt sich zurzeit alle zwei Jahre und Experten sind der Überzeugung, dass die zehn meist gesuchten Berufe des Jahres 2010 im Jahr 2004 noch gar nicht existierten. Ich denke, es ist hilfreich, sich Vergangenes noch einmal zu vergegenwärtigen, wenn man ein Gefühl für Kommendes entwickeln möchte.
Drei Tendenzen
Unvermeidbar erscheint mir aus heutiger Sicht – natürlich neben einer Vielzahl anderer Entwicklungen und Faktoren – die zunehmende Relevanz dreier Tendenzen:
1. Individualisierung: 2020 sind alle Bücher, die jemals geschrieben, alle Musikstücke, die jemals aufgenommen und alle Filme, die jemals gedreht wurden, jederzeit und überall auf der Welt verfügbar. Mobil über die Weiterentwicklungen von PDAs, iPods und iPhones und Zuhause sowieso. Der persönliche Umgang mit diesen Kulturgütern hat sich dadurch extrem individualisiert, auch wenn es Gemeinschaftserlebnisse wie Konzert und Kino weiterhin gibt.
2. Oberflächlichkeit und Eventisierung: Globaler Starrummel und Medienhype dominieren das Bewusstsein der Menschen noch stärker, die Wahrnehmungshürden für eher introvertierte Künstler und unscheinbare Kunstformen werden immer höher. Events werden immer lauter, schriller und spektakulärer konzipiert. Nicht zuletzt durch die permanente Reizüberflutung hat die Lust und die Fähigkeit, sich tiefgehend und ausdauernd mit Kultur auseinanderzusetzten, bei vielen Menschen massiv abgenommen. Die Muße und intellektuelle Anforderung, sich mit einer „langen“ Bach-Passion, Mahler-Sinfonie oder Wagner-Oper zu beschäftigen, ist vielen völlig fremd.
3. Werteverfall: 2020 ist der schnelle und heftige Reiz, der ultimative Kick, noch mehr gefragt. Die Hemmschwellen bei der Darstellung von Sex und Gewalt sind weiter gesunken. Nur das, was gesetzlich ausdrücklich verboten ist, wird nicht auf den Bühnen der Welt gezeigt.
Dschungelcamp“, „Big Brother“ und „Schlag den Raab“ sind zu einem TV-Format verschmolzen: Auf Kuba lassen sich in der Guantánamo-Show abgewrackte E-Promis und durchs soziale Netz gefallene Hartz 8-Empfänger zur Unterhaltung der TV-Gemeinde im umfunktionierten Camp Delta derart quälen und erniedrigen, dass uns die gegenwärtigen Aufreger-Formate als völlig harmlos in Erinnerung sind, so wie wir heute „Spiel ohne Grenzen“ und „Dalli Dalli“ belächeln.
Aus dem Kinderzimmer
Zum einen zeigen die eingangs aufgeführten Fakten eindrucksvoll, dass die künftigen Umwälzungen der Kulturlandschaft nicht zuletzt auch aus den Kinderzimmern von heute kommen. Märklin-Eisbahn und Klavier verschwinden mehr und mehr aus den bürgerlichen Wohnstuben. Ein noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehaltener Siegeszug musikalischer (!) Computerspiele hält heute dafür Einzug in die heimischen vier Wände, allen voran Guitar Hero mit bisher 23 Millionen (!) verkauften Musikspielen. Zum Anderen wissen wir um die demographische Entwicklung, den wachsenden Anteil der älteren Bevölkerung. So wird 2020 vielleicht eine der wichtigen Fragen sein, wie diese beiden scheinbar gegenläufigen Entwicklungen unter einen Hut zu bringen sind: Junge Erwachsene, die kulturell (besonders, wenn es um Musik geht) stark durch Computer und Internet geprägt sind und gar nicht mehr wissen, was eine Schallplattensammlung ist; im Kontrast dazu die vielen junggeblieben Senioren, die mit Selbstverständlichkeit auf ihre hochsubventionierten Aboplätze in Konzertsaal, Oper und Theater bestehen. Wird sich das gesellschaftlich und kulturpolitisch auch bei abnehmenden finanziellen Mittel für Kultur problemlos miteinander verbinden lassen?
In Münster wurde im vergangen Jahr der Bau eines neuen Konzerthauses durch ein Bürgerbegehren gestoppt, die Mehrheit der Münsteraner ist der Meinung, die Stadt solle für so etwas kein Geld ausgeben. Eine Prognose für 2020 ist also schon mal leicht abzugeben: In Münster wird es keinen neuen Konzertsaal geben. Bedenkt man das Engagement, das notwendig ist, um die Bevölkerung derartig zu mobilisieren, drängt sich mir die Frage auf, ob all die Energie, die in die Verhinderung einer Investition in die Kultur geflossen ist, nicht für andere, drängendere Anliegen hätte sinnstiftender eingesetzt werden können.
Dieses Beispiel zeigt aber auch, warum es von essenzieller Bedeutung ist, dass wir uns heute darauf verständigen, welche kulturellen Errungenschaften und Kompetenzen uns auch für 2020 so bedeutsam und wesentlich erscheinen, dass wir jetzt die Weichen für deren dauerhaft florierende Existenz richtig stellen. Denn im Jahr 2020 wird weder ein breiter Konsens über unseren kulturellen Kanon noch die Finanzierung aller wünschenswerten kulturellen Aktivitäten und Einrichtungen eine Selbstverständlichkeit sein.
Stefan Piendl,
Geschäftsführer der Arion Kultur & Management GmbH, Vizepräsident der Jeunesses Musicales Deutschland