Lange Jahre galt das Internet als Copyright-Killer Nummer eins, doch nun glaubt die Musikwirtschaft das Tal der Tränen langsam durchschritten zu haben. Man ahnt, dass in absehbarer Zukunft hier vielleicht das ganz große Geschäft zu machen ist. Bei der Musik- und Medienmesse MIDEM in Cannes war jedenfalls in diesem Jahr einiger Optimismus angesagt. Auch wenn die Piraterie nie ganz abzustellen sein wird: Mit einem ganzen Bündel von Anreizen hofft man das Massenpublikum zielsicher für legale Downloads motivieren zu können. Die Rechteinhaber schließen Abkommen mit Mobiltelefonfirmen und großen Internet-Portalbetreibern, um die bestehenden Kommunikationskanäle endlich zu nutzen. Alles deutet darauf hin, dass die Musik zukünftig im Internet spielt – quantitativ wohlgemerkt, nicht qualitativ. Aber nur so lässt sich bekanntlich das große Geld machen. Durch den Wegfall der starren Kopierschutzbedingungen, wie es iTunes vorgemacht hat, eröffnen sich paradoxerweise neue, kontrollierbare Geschäftsfelder, denn es werden neue Kaufanreize geschaffen. In dem zu Rupert Murdochs Imperium gehörenden Netzwerk MySpace können zum Beispiel Millionen von Songs gratis angehört, aber nicht heruntergeladen werden. Das weckt den Besitztrieb beim Konsumenten, und er kauft sich das Begehrte in Form einer CD oder eines Downloads.
Das Lockvogel-Angebot als Geschäftsprinzip. Auf den ersten Blick suizidverdächtige Aktionen wie die der Gruppe Radiohead, die Ende 2007 ihr neues Album „In Rainbows“ nach dem Zahle-was-du willst-Prinzip zum Download freigab, erweisen sich auf den zweiten Blick als besonders raffinierter Schachzug. Brian Message, Co-Manager der Gruppe, verweist auf die annähernd drei Millionen Email-Adressen, die durch die Aktion gesammelt werden konnten. Den Wert von Datenbanken kennt nicht nur die Deutsche Bahn, und Emailadressen sind in Zeiten des Internet-Direktmarketing bares Geld.
Das aktuelle Stichwort heißt „Mobile music“. Nokia will das bisher auf England beschränkte Angebot, auf seinen Handys zwölf oder achtzehn Monate lang freien Zugang zu einem Katalog von Millionen von Titeln zu gewähren, demnächst auf ganz Europa ausdehnen; zu diesem Zweck sollen entsprechende Verträge mit den nationalen Urheberrechtsgesellschaften geschlossen werden. Sony Ericsson und Orange wollen nachziehen. Eine ähnliche Initiative startet der Mobilfunkanbieter SFR in Frankreich, und der Musikmulti Universal schmiedet Allianzen mit den europäischen Urheberrechtsgesellschaften mit dem Ziel, einheitliche Lizenzierungsregelungen für den Download zu schaffen. The Orchard, der weltweit größte digitale Musikvertrieb aus den USA, steigt im lukrativen japanischen Markt ein. Die Liste der in Cannes bekanntgegebenen Vorhaben ließe sich beliebig verlängern.
Die Klassik galt bisher als weitgehend internetresistent. Das beginnt sich zu ändern, trotz des konservativeren Hörverhaltens ihres Publikums. Die anspruchsvoll gemachte CD wird sicher nicht vom Markt verschwinden, aber Kaufanreize werden in Zukunft wesentlich vom Web her erfolgen; wer hier nicht mit interessant gemachten Verkaufsportalen, Werbeangeboten und Billig-Downloads präsent ist, wird auch weniger CDs verkaufen. Und schon steht der nächste Schritt bevor: die audiovisuelle Klassik. Vor allem bei Oper und Ballett, aber auch Künstlerporträts und Werkdokumentationen, ist der Musikfilm auf dem Vormarsch. Auch da wird ohne Internet nichts mehr gehen. Zwar wird das individuelle High-End-Produkt, die DVD, ihren Platz zweifellos noch ausbauen, und das Fernsehen wird weiterhin zu nächtlicher Sendezeit seine Koproduktionen zeigen, aber der große Marktplatz, auf dem das Neue in Klang und Bild vorgestellt und beworben wird, wird das Internet sein.
Seitdem die Breitbandtechnik in immer mehr Haushalte vordringt, ist eine befriedigende Ton- und Bildqualität für Musikübertragungen greifbare Realität geworden. Die New Yorker Met hat 2006 begonnen, ihre Premieren live – zunächst nur in Kinos – zu übertragen. Die Bayreuther Festspiele unternahmen letztes Jahr auch erstmals einen Versuch, und die Berliner Philharmoniker haben im Internet ihre „Digital Concert Hall“ eröffnet, wo sie ihre Konzerte als Live-Stream anbieten.
Die jüngste dieser Initiativen ist das englische Web-Portal classicaltv.com, das am 2. Februar mit der Live-Übertragung der „Bohème“ aus der English National Opera gestartet ist. Es profitiert vom Katalog der Vertriebsfirma DCD Rights, die Hunderte von Musikfilmen im Angebot hat und in diesem neuen Internet-Kanal offenbar eine optimale Werbemöglichkeit für den Verkauf ihrer Produkte sieht. Auch die von amerikanischen Investoren kontrollierte Firma Medici Arts führt ein eigenes Portal namens medici.tv, hinter dem ein großer eigener Katalog steht, unter anderem die Titel des gut eingeführten DVD-Labels EuroArts. Das holländische Portal monteverdi.tv wiederum kooperiert mit dem Concertgebouw Amsterdam. Wie in Cannes zu hören war, stehen etwa 250 Internet-Anbieter von Klassik-Musikfilmen in den Startlöchern. Jetzt ist die Frage nur noch, in welchem Ausmaß das Publikum mitzieht. Bei allen Beschränkungen der Bildschirmwahrnehmung: Man darf vermuten, dass die Klassik im Internet bald heimisch wird – womöglich auch mit dem Effekt, dass den Opernhäusern und Konzertsälen neue Hörerschichten zugeführt werden.