Hauptbild
Moritz Eggert. Foto: Juan Martin Koch

Moritz Eggert.

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Das Neue kommt unverhofft

Untertitel
Absolute Beginners 2024/09
Vorspann / Teaser

„Avantgarde“,„Moderne“, „Neue Klänge“, „Experiment“ – das sind alles Begriffe, die im Selbstverständnis zeitgenössischer Musik nach wie vor eine Rolle spielen, obwohl sie eigentlich schon längst nicht mehr die Relevanz haben, die sie einst besaßen. Man assoziiert sie vornehmlich mit Komponierenden, die entweder lange tot oder über 80 sind und mit ihrer Ästhetik auf vollkommen andere gesellschaftliche Verhältnisse als die heutigen reagierten. Wenn zum tausendsten Male John Cage wie ein Springteufel herbeibeschworen wird und immer wieder „Happy New Ears“ ruft, will man vielleicht auch endlich mal seine Ruhe haben.

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Die „Neue Musik“ klebt an ihrem von der industriellen Revolution geprägten Konzept des „Neuen“ und ist zu einem Schaulaufen bestimmter musikalischer Topoi geworden, die nur noch endlos variiert und verfeinert werden und damit jegliche Schlagkraft oder interessante Schockwirkung verloren haben. In Wettbewerbsjurys bekommt man zunehmend Partituren vorgelegt, die exakt so auch vor 80 Jahren komponiert hätten werden können. In Asien gibt es riesige Universitätsfabriken, in denen den Studierenden streng beigebracht wird, wie man zum Beispiel „wie Lachenmann“ komponieren kann. Manchmal ist man richtiggehend schockiert, dass in heutigen Konzerten Werke von 1920 frischer und wagemutiger klingen können als aktuell Komponiertes. Zunehmende Raffinesse oder „New Complexity“ wird auch zur Sackgasse, da die Grenzen des Spielbaren schon lange ausgelotet wurden und die typische „Neue Musik“ – Virtuosität eher durch die Leidensfähigkeit ihrer Interpret:innen beindruckt als durch echte musikalische Tiefe.

All dies hat keineswegs damit zu tun, dass der Musik an sich die Ideen ausgehen. Nur ein flüchtiger Blick auf die Musikgeschichte zeigt, dass ständige Paradigmenwechsel absolut üblich sind. Ein solcher Paradigmenwechsel kann dann auch bedeuten, dass es nicht mehr so interessant ist, zum tausendsten Male das „Innere eines Klangs auszuloten“.

Meine Studierenden sind die erste Generation, die bestimmte ideologische Diskussionen überhaupt nicht mehr versteht und sich wundert, warum einst zum Beispiel um die strenge Verwendung von „Material“ ein irrsinniges Aufheben gemacht wurde. Sie benutzen unterschiedlichste Systeme und Vorgehensweisen ohne ideologische Scheuklappen.

Text

Bei der musikalischen Bildung spielen das Internet und seine Praxis des Verlinkens eine größere Rolle als das Konzert­erlebnis. Wenn man sich einmal ­beginnt, für „andere“ Musik als die des Mainstreams zu interessieren, erlaubt einem die Spurensuche im Internet jederzeit mit einem Klick von einem Video von Prince zu einem Video von Morton Feldman zu springen. Auch historisch gibt es keinerlei Grenzen – es ist eine Sache von wenigen Klicks eine Playlist aus Gesualdo, Gershwin, Hildegard von Bingen und The Who zu erstellen. Dadurch entwickeln die wahrlich Neugierigen einen wesentlich vielfältigeren Musikgeschmack aus, in dem ein strenger „Stil“ nicht mehr so eine Rolle spielt.

Das heißt aber nicht, dass jetzt die große Freiheit ausgebrochen ist. So fragen mich meine Studierenden oft, ob sie so und so für einen bestimmten Wettbewerb komponieren müssen, um eine Chance zu haben. „Da sitzt H. in der Jury, wird dann von mir erwartet, dass ich mikrotonal komponiere?“ „Wenn M. in der Jury sitzt, ist dann mein Stück überhaupt komplex genug?“ Dasselbe gilt für Bewerbungen, bei denen sie das Gefühl haben, nach wie vor bestimmte Checklisten abhaken zu müssen. Neue Musik ist zu einer Art „Kür“ geworden, die man wie ein Eiskunstläufer abliefern muss.

Artikel auswählen
Text

Die heutige jüngere Generation ist auf einem guten Weg, sich von Ballast zu befreien, und sie wird ihren eigenen Weg gehen. Es ist dabei nicht wichtig, dass uns dieser Weg gefällt, wir sind auch nicht diejenigen, die ihn absegnen sollten. Das „Neue“ im Jahre 2050 wird ein anderes Konzept sein als das „Neue“ im Jahr 2000. Ist das schlimm? Wenn der Freiraum für die Jungen zunehmend wächst und sie nicht mehr ständig an Kriterien gemessen werden, die auf sie gar nicht mehr zutreffen, kommt das Neue ganz bestimmt – wenn wir ihm nicht vorschreiben, auf welche Weise es neu zu sein hat.

Print-Rubriken
Unterrubrik