[…] Die am meisten gefeierten skandinavischen Tondichter sind in Norwegen zu suchen: E. Grieg (gest. 1907) und Christian Sinding (ihre hier angeführten Klavierwerke sind bei Peters erschienen). Über alle zivilisierten Länder der Welt zieht sich die Einheitsfront der musikalischen Backfische männlichen und weiblichen Geschlechts hin, die Grieg zum Liebling erkoren haben. Kein namhafter Komponist ist jemals so maßlos überschätzt worden wie er.
Die Klaviermusik der letzten Jahrzehnte
Ihm, dem Tonsetzer kleinbürgerlichen Formates, gelingen manche niedlichen Pastellbildchen wie der „Norwegische Brautzug“ Wk. 19 Nr. 2, der mit Schumannscher Romantik imprägnierte „Kanon“ Wk. 38 Nr. 8, der „Schmetterling“ Wk. 43 Nr. 1 und das „Vöglein“ Wk. 43 Nr. 4; es bedarf übrigens keiner besonderen musikalischen Deszendenztheorie, um einen Vorfahren dieses Vögleins in Schumanns „Vogel als Prophet“ zu erkennen. Gerne greift Grieg zu den Tönen heimatlicher Volkskunst und verleiht so seinen Stücken ein anziehendes nordisches Kolorit. Nicht selten entschlüpfen ihm aber regelrechte Schmarren wie die entsetzlich sentimentale, fischblütige „Erotik“ Wk. 43 Nr. 5, der üble Reißer „An den Frühling“ Wk. 43 Nr. 6 und der triviale „Hochzeitstag auf Troldhaugen“ Wk. 65, Nr. 6. In richtiger Erkenntnis der Beschränktheit seiner Begabung hat Grieg große Formen fast ganz vermieden. In der Sonate Wk. 7 und den als Ballade bezeichneten Variationen Wk. 24 zeigt sich seine Unfähigkeit, anders als mit Pomp auf äußerliche, klangliche Art zu steigern; dem so zustande kommenden Scheinpathos begegnet man ebenso in den Violinsonaten und der Cellosonate.
Griegs Landsmann Sinding ist aus gröberem Holze geschnitzt. Bei seiner Vorliebe für kalte Klangfarbenpracht könnte man ihn den musikalischen Makart des Nordens nennen. Großer Beliebtheit erfreut sich eines seiner sechs Klavierstücke Wk. 32: „Frühlingsrauschen“, ein Salonstück, das man bestenfalls als Etüde gelten lassen kann. Eine „Skizze“ B dur (Hansen) ist über die Maßen derb und gewöhnlich. Die erhabene Gebirgsnatur Norwegens wartet bis jetzt vergeblich auf ein musikalisch-künstlerisches Gegenstück. […]
Walter Georgii, Neue Musik-Zeitung, 44. Jg., 6. September 1923 [keine Ausgaben erschienen bis April 1924]
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