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Mangelnde Tiefe – Cord Meijerings Neuvertonung von Abel Gances Stummfilm „J’accuse“

Vorspann / Teaser

Historische Stummfilme üben seit gut drei Jahrzehnten eine nicht nachlassende Faszination auf zeitgenössische Komponistinnen und Komponisten aus; denn zweifellos bietet die Möglichkeit, die bewegten Bilder mit einem musikalischen Kommentar aus Perspektive der Jetztzeit zu versehen, einen besonderen Reiz. An einer solchen Aufgabe freilich scheitert der Komponist Cord Meijering bei seiner Neuvertonung von Abel Gances „J’accuse“ (1918/19), die vom ensembe unitedberlin unter Leitung von Christoph Breidler im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt uraufgeführt wurde.

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Mit „J’accuse“ („Ich klage an“) drehte der französische Stummfilmpionier Abel Gance in den Jahren 1918/19 zwar nicht, wie im Programm-Faltblatt des Abends zu lesen war, den „ersten pazifistischen Film der Welt“ – diesbezüglich geht ihm etwa Alfred Machins „Maudite soit la guerre“ (1914) um einige Jahre voraus –, doch schuf er einen zweifellos einzigartigen, filmhistorisch ebenso bedeutsamen wie visuell sprachmächtigen und zukunftsweisenden Kommentar zum seinerzeit gerade erst beendeten ersten Weltkrieg. Der Strahlkraft, die auch heute von dem ungebrochen aktuellen Sujet ausgeht – es beleuchtet, kurz gesagt, die Liebe zweier rivalisierender Männer zu einer Frau vor dem Hintergrund des Krieges und seiner gesellschaftlichen wie psychologischen Folgen –, ist es wohl zu verdanken, dass sich nicht ganz zehn Jahre nach Uraufführung der von Philippe Schoeller mit sinfonischer Klangwucht versehenen restaurierten Filmfassung (2014) erneut ein Komponist an dem monumentalen Film abgearbeitet hat. Für diese neue, einem dreizehnköpfigen Solistenensemble zugedachte Vertonung, die am vergangenen Freitag im Werner-Otto-Saal des Berliner Konzerthauses am Gendarmenmarkt durch das konzentriert agierende Ensemble Unitedberlin unter Leitung von Christoph Breidler uraufgeführt wurde, zeichnet der Niederländer Cord Meijering (*1955) verantwortlich.

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Aus dem Urgrund

Grob gesagt vermittelt die Musik den Eindruck, als habe der Komponist das Konzept der allmählichen Klangraumerschließung aus Richard Wagners „Rheingold“-Vorspiel mit der Exploration von Partialtonräumen im Stile von Gérard Griseys „Les éspaces acoustiques“ innerhalb eines variativ angelegten, immer wieder dieselben Ausgangsvoraussetzungen abtastenden Formverlaufs vermählen wollen. Konkret gesprochen legt Meijering den überwiegenden Teil des Komponierten als Erkundung der Teiltonreihe auf dem Grundton C an, einen Ausgangspunkt, den er nach und nach entfaltet, klanglich durch Geräusche schärft, mit Akzentuierungen, Atemzügen oder Stimmklängen anereichert und allenfalls vorübergehend zugunsten vergleichbarer Klangentfaltungen auf der Basis benachbarter Grundtöne verlässt.

 

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Die Musik beginnt – und daher liegt der Vergleich mit dem „Rheingold“-Vorspiels so nahe – quasi ouvertürenartig einige Minuten vor Einsatz des 165-minütigen Films aus dem Urgrund der tiefesten Register aufzusteigen, erschließt schrittweise die Stufen des Teiltonspektrons, bis irgendwann die ersten Bilder hinzutreten; und sie endet, die anfangs etablierten Verfahrensweisen immer wieder auf andere Weise durchdeklinierend, eine ganze Weile nach der Abblende des letzten Filmbildes durch Rückkehr zu dieser Grundlage. Zwischendurch werden wir Zeugen, wie sich die Materialität der Ereignisse verändert, wie sich das Brodeln des Urgrunds zur Kontur eines sanft schaukelnden, den Ensemblesatz durchdringenden Dreiermetrums verfestigt, wie die Partialtöne zu einfachen melodischen Konstellationen und Seufzern zusammenfinden oder vom Komponisten harmonisch in gemeinsam intonierten Forte-Akkordballungen gebündelt werden – all dies im Zuge ständigen Variierens und Neudeutens der einmal eingeführten Ausgangsvoraussetzungen.

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Fehlende Stellungnahme

Auch wenn der Komponist dem Ensemble vor allem in Hinblick auf mikrointervallische Intonation und Klanggestaltung einiges abverlangt, macht er es sich doch sehr einfach. Er hat eine Partitur vorgelegt, die nicht wirklich zum Film koordiniert werden muss und die daher auch nur in seltenen Fällen eine auf die Narration bezogene, aber gleichwohl sehr oberflächliche syntaktische Funktion zu übernehmen scheint – wobei dies wohl nicht wirklich intendiert, sondern eher dem zufälligen Zusammentreffen von erzählerischem Spannungsbogen und Klangakumulation geschuldet sein dürfte. In einem (seltsamerweise nicht auf dem Programm-Faltblatt abgedruckten) Werkkommentar betont Meijering denn auch, dass seine Musik nicht anklagen (also demnach auch nicht Stellung beziehen), sondern uns vielmehr „mit Erwartungslosigkeit“ erfüllen und „unsere Gedanken“ in den „tönenden Raum“ führen solle – Ausdruck des Wunsches nach einem gleichsam neutralen Verhältnis zwischen Bild und Klang, der sich angesichts des Sujets von „J’accuse“ zum Eindruck bewusst ausgestellter Gleichgültigkeit verdichtet.

Dies führt denn auch dazu, dass der Film an diesem Abend harmlos wirkt und viel von seiner aufrüttelnden, apokalyptischen Wirkung verliert: Die Bilder aus den Schützengräben, die unter Verwendung von scherenschnittartig anmutenden Silhouetten arbeitende Darstellung der Kriegsgewalt auf den Schlachtfeldern oder die zu Totentänzen stilisierten Überblendungen einzelner Sequenzen mit tanzenden Skeletten werden unter dem Einfluss des ständigen Partialton-Klangflusses gezähmt und erscheinen nur mehr als Schatten ihrer selbst. Meijerings Erklärung, mit seiner Partitur dem „Klingen einer selbstvergessenen Trauer über die Schmerzen des Krieges, über das Leid, das der Mensch dem Menschen zufügt“, Ausdruck verleihen und die Aufführung mit dem „Besuch eines buddhistischen Tempels zum Gebet“ gleichsetzen zu wollen, mutet denn auch wie eine schönfärberische Ausflucht an, die den Umstand verbergen soll, dass die komponierten Klänge ohne jegliche Abstriche auch zur Unterlegung anderer Filme benutzen werden könnte. Eine ernst zu nehmende, in die Tiefe gehende Auseinandersetzung mit dem historischen Filmkunstwerk und seinen drängenden Fragen lässt die Musik dagegen nicht erkennen.

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