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Energiegeladenes Spiel: Schülerinnen und Schüler aus Deutschland und Polen im Quintett. Foto: Michael Ernst
Energiegeladenes Spiel: Schülerinnen und Schüler aus Deutschland und Polen im Quintett. Foto: Michael Ernst
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In 63 Sekunden ist alles verheizt

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„Geo-Sounds Future“ verbindet Erdgeschichte mit Fund- und Klangstücken aus Dresden und Polen
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Wie klingt Erde? Sie kann beben, knarzen, scharren und dröhnen. Oder still sein. Sie kann sanft und schrundig sein, wogende Gräser hervorbringen und knorrige Bäume. Wasser fließt durch sie durch und über sie hinweg, Winde wehen und stürmen, Wetter prallt und prasselt auf sie ein. Plötzlich bekommt ein Wort wie Klang-Landschaft einen ganz neuen Sinn.

Was Erde aber nicht kann – sich schützen vor Eingriffen. Keine andere Gattung hat die Erde so sehr verändert wie der Mensch. Zumal in Gegenden mit Bodenschätzen, Kohleabbaugebieten etwa, wo der Mensch die Erde gnadenlos umgestülpt und ausgebeutet hat. Die Folgen? Zerstörte Natur, geschändete Landschaft, untergegangene Orte und entwurzelte Menschen. Mit dem kurzfristig Gewinn verheißenden Raubbau werden Biografien durchkreuzt und langfristig irreparable Schäden verursacht. Der Mensch als Schinder geschundener Kreaturen.

Soll es künftig so weitergehen? Darüber zerphrasen Politiker ganze Parteitage, während das Kapital die Öffentlichkeit mit Arbeitsplatzargumenten manipuliert und sich still ins goldige Fäustchen lacht. Wer wirklich davon betroffen ist und sich zur Wehr setzt, wird als Querulant abgetan.

Ein paar Dutzend Schülerinnen und Schüler aus der deutsch-polnischen Grenzregion – allesamt vom Kohleabbau betroffen – haben sich etwa eineinhalb Jahre lang mit diesem Thema beschäftigt und das Resultat dieser Auseinandersetzung Ende Mai in Dresden sowie im polnischen Kraków präsentiert.

Diese grenzüberschreitende Performance begann im Grunde genommen vor rund 65 Millionen Jahren. Damals gab es noch keine Grenzen. Aus Bäumen wurde seinerzeit Kohle; heute werden ganze Wälder abgeholzt, um die zu gewinnen. Und zu verheizen.

Ein ganzes Jahr lang ist diese unvorstellbare Epoche in einer Internetkomposition zusammengefasst worden, an der junge Leute von deutschen und polnischen Schulen gemeinsam mit dem Klangkünstler Johannes Krause mitgewirkt haben. Das vergangene Jahrhundert des massiv industrialisierten Kohleabbaus hat in diesem Projekt ganze 63 Sekunden gedauert! Wie schnell ist verheizt, was über Jahrmillionen gewachsen und gereift ist – macht sich irgendwer im Zeitalter von Feueranzünder und Einweggrill darüber Gedanken?

Von da an wurde aus dem virtuellen Kunstprojekt ein ganz reales, nun ging es um Gegenwart und Zukunft. Aus den „Geo-Sounds“ wurden „Geo-Sounds Future“, und deren Uraufführung gab es passenderweise in den ruinösen Hallen auf Dresdens einstigem Schlachthofgelände. Zur Einstimmung auf das Konzert gestalteten die jungen Musikerinnen und Musiker, die sich gemeinsam mit Komponisten und Geologen sehr intensiv dieser Thematik gewidmet hatten, drei Ausstellungsräume mit Fundstücken aus der Bergbaulandschaft und Visionen dazu.

Das eigentliche Konzert fand unterm Dach des sogenannten Heubodens statt und gestaltete sich als wundersames Wandelkonzert. Insgesamt sieben kleinteilige Ensembles waren im Raum versammelt und wurden für ihre Darbietungen ins rechte Licht gesetzt. Ihre Musiken sollten im Wechsel Stadtlandschaft und Industrie reflektieren, Energie und Klimawandel ins Verhältnis setzen, Nachdenken über Mobilität und Zukunft auslösen. Dazu durften die jungen Leute auf ein erfahrenes Ensemble setzen, denn mit dem Mendelssohn Kammerorchester Leipzig unter der Leitung von Barbara Rucha trat ein äußerst versierter Klangkörper an, der auch dem experimentellen Charakter dieser Musiken bestens gewachsen war.

Da gingen melodiöse Phrasen in mechanische Klangstruktur über, da wurde gehaucht und gejauchzt, mal rein tonal, dann elektronisch multipel – gerade diese Vielfalt verdeutlichte die Unergründlichkeit des am eigenen Ast sägenden menschlichen Daseins.

Dessen Irrationalität wurde am deutlichsten durch die Verschiebungen von langsam und schnell, von leisen und lauten bis hin zu sehr lauten Passagen. Neben rein tonalen Sequenzen gab es da schreiende Ausbrüche, instrumentale Variationen und kreischendes Plappern, das wohl die Inhaltsleere moderner Kommunikation der global urbanisierten Menschheit abbilden sollte.

Die erstaunlichste Begleiterscheinung des (vorrangig wohl aus Familienangehörigen bestehenden?) Publikums war dessen zusätzliche Geräuschkulisse mittels unablässig blitzender und klingelnder Fototechnik. Damit wurde der gesamte Ansatz der natural klingenden Erde irgendwie ad absurdum geführt. Oder erst recht als irdisch heutig definiert?

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