Große Schuld aus tiefer Liebe. Wilde Verzweiflung aus purer Armut. Schamvolle Sühne und (k)ein Happyend. Diese Oper hat alles, was ein guter Psychokrimi braucht. Vor allem eine unter die Haut gehende Musik!
Alles so schön blau hier! Chemnitzer „Sleepless“ von Péter Eötvös steckt voller Abgründe
Man könnte ja an die vielbesungene Weihnachtsgeschichte denken: Junges Paar sucht eine Bleibe für die bevorstehende Entbindung, wird jedoch wieder und wieder nur abgewiesen. Nicht mal Ochs und Esel sind zu finden, von einer Krippe zu schweigen. Bei Jon Fosse, dessen Roman „Trilogie“ die Grundlage zur Oper „Sleepless“ von Péter Eötvös bildet, ist das Ganze absolut zeitlos, ohne Bezug auf Bibellegende, sonstige Märchen und / oder dystopische Utopien.
Sowohl Komponist Péter Eötvös, der sein als Opernballade bezeichnetes Musiktheater als Auftragswerk der Berliner Staatsoper und des Grand Théâtre de Genève schuf, als auch Regisseur Dennis Krauß, der es nun nach Chemnitz übertrug, sind diesem Ansatz gefolgt. Kein expliziter Zeitbezug, kein An- oder Ausdeuten von Aktualitäten, sondern ein wahrhaftes Kunst-Stück, das jederzeit im Überall und Nirgends spielen kann. Konkreter wird es nur im Text, der mehrfach auf den Fischerort Bjørgvin hinweist, womit sicherlich nicht das heutige, sondern nur ein ferneres Bergen gemeint sein kann. Vor allem aber wird es konkret in der Musik. Péter Eötvös hat sich in norwegische Klanglandschaften hineingehört, um sie in seinem Opus – es sollte die vorletzte Oper des im März verstorbenen Meisters bleiben – andeuten zu können, ohne sie direkt zu zitieren oder gar zu imitieren. Dennoch spielt norwegische Volksmusik Eötvös zufolge „eine Hauptrolle in meiner Oper“, lässt er tradierte Lieder auf einer Hardangerfiedel anklingen.
Und auch sonst weht das nordisch Schroffe aus den Streichern, wogen kühle Akkorde, als würden sie an Küsten brechen, webt eisig geharvt eine Nachtmusik tiefhängende Wolken, als sollte das menschliche Tun darunter besser erst gar nicht ans Licht kommen. Denn es ist in weiten Teilen ein unmenschliches, ein mörderisches Tun.
Was ist der Mord einer Mutter gegen den Schutz einer Mutter?
Dabei geht es zunächst mal um Liebe und daraus entstehendem neuen Leben. Alida und Asle, zwei noch sehr junge Menschen, erwarten ein Kind und suchen die sprichwörtliche Herberge für ihr gemeinsames Glück. Aus der bisherigen Bleibe werden die beiden verstoßen, Eigenbedarf des Vermieters würde man das heute gesetzestreu nennen. Ihre Väter sind tot, als Fischer „im Meer geblieben“, Alidas Mutter hat die Tochter verstoßen, wird von Asle getötet. Ein Muster, das sich fortsetzt. Eine alte Frau will keine Leute von der Straße aufnehmen, ein junges Mädchen würde nur Asle Unterschlupf bieten, ein Kneipier nur Alida, jeweils mit Hintergedanken, versteht sich.
Zur Untat getrieben wird Asle von den Gierigen, die nichts abgeben wollen. Dabei hat er zuvor sogar seine Fiedel verkauft, um den Hunger der werdenden Mutter zu stillen. Seine Not rechtfertigt freilich nicht seine Taten, der Schutz einer Gebärenden nicht den Mord anderer Frauen.
In der zweiaktigen Szenenfolge erklingt deskriptives Orchesterwerk, von der Robert-Schumann-Philharmonie unter Kapellmeister Friedrich Praetorius mit enormer Obacht umgesetzt. Bei Eötvös überwiegt kammermusikalische Strukturiertheit, mit ihr schafft er Raum für Seelenzustände, für Stimmungen und Situationen.
Dennis Krauß, der seiner Inszenierung auch das blau in blau getönte Bühnenbild schuf, vertraut auf Musik und Handlung. Ob Innen- oder Außenraum, ob Straße oder Strand, Küste oder Kneipe, er lässt große blaue Baukörper auf- und niedersteigen, aus deren Geometrie sich auf der Drehbühne schlüssige Szenen ergeben. Für Erhellung sorgen mal eine Zimmerlampe, mal ein Lüster, mal eine Straßenlaterne. Alida und Asle irren wie Getriebene durch diese Orte, ein Eindruck, der von einer Horde (blaues!) Bier saufender Fischer sowie vor allem von einem tatsächlich so bezeichneten Man in Black (nicht in blau!) nur verstärkt wird. Denn der ist Asle auf die Schliche gekommen, weiß um dessen Verbrechen, spricht sie aus und lässt den schuldlos schuldig gewordenen Jüngling von einem aufgestachelten Mob hängen. Eine eindrückliche Szene, visuell überhöht, die aus dem ohnehin bildgewaltigen Abend nochmals heraussticht.
Ansonsten alles so schön blau hier, als hätten sich Hänsel und Gretel in einem kunterblauen Märchenwald verlaufen. Herauskommen wird da nur die junge Mutter und ihr so früh zum Halbwaisen gewordener Sohn. Beiden wird von einem barmherzigen Fremden geholfen, der ihnen schützende Heimstatt bietet und akzeptiert, das Alida auch Jahrzehnte später noch Asles Worte vernimmt: „Ich werde immer bei dir sein, wie der blaue Himmel über dem glitzernden Meer.“
Die Musik ist der größte Gewinn dieses Abends
Péter Eötvös, der im Frühjahr 2024 kurz nach seinem 80. Geburtstag in Budapest verstorben ist, war Chemnitz eng verbunden, hat hier 2009 als Porträtkomponist gewirkt und sein Konzert für zwei Klaviere aufgeführt, im selben Jahr kam am Opernhaus „Love and Other Demons“ heraus, 2015 folgte „Paradise Reloaded“, beide Werke als Deutsche Erstaufführung. Die Neuproduktion von „Sleepless“ wurde dem Andenken des großen ungarischen Komponisten gewidmet.
Musikalisch eine würdige Ehrung, denn die Leistungen von Robert-Schumann-Philharmonie und dem großen Solistenensemble, überzeugend ergänzt um Sängerinnen des Opernchores, haben die Musik zum größten Gewinn des Premierenabends werden lassen. Allen voran die betörende Marie Hänsel als Alida und der sich ungelenk gebende Thomas Kiechle als vokal kraftvoller Asle. Völlig zu Recht gefeiert wurden (im leider nicht ausverkauften Haus) auch alle weiteren Hauptpartien, die in summa bewiesen, welche Potenz zu entfalten ein Stadttheater in der Lage sein kann.
Termine „Sleepless“ – 3., 11., 26. Mai, 9. Juni 2024
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