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Foto: © Theater-, Oper und Orchester GmbH Halle, Fotos: Yan Revazov
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Art*House oder besser Dark*House ? Eine Ballettproduktion in Halle als gestreamte Premiere

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„Dunkel ist der Weltraum“, so lautet das berühmteste Zitat von Juri Gagarin, dem ersten Menschen im All. Dunkel ist die Bühne, so könnte man nach der jüngsten Premiere an der Oper Halle vorwarnend kalauern. Das jüngste Ballett- und Musikspektakel ist mit dem Titel „Art*House“ überschrieben. Der offenbar unumgängliche Anglizismus ist immerhin sehr raumgreifend und lässt allen möglichen Assoziationen und Interpretationen Raum.

Der Tanz an sich könnte das Thema sein. Oder das Raunen der Natur, das die Körper ergreift. Oder die Magie des Lichtes, die sie dann auch wieder verschwinden lasst. Wenn sich ein Licht-Gitter über die Dunkelheit legt, verschwinden die Menschen und ihre Bewegungen im wahrsten Sinne des Wortes im oder hinter diesem Netz. Ganz ähnlich dem Verschwinden mancher Menschen im world wide web. Bewegungen lassen sich nur noch in der Übersetzung, als Irritationen der Netzstruktur erahnen. Wenn das keine selbstreflexive Pointe ist, die auf den gegenwärtigen Zustand von live produzierter Kunst zielt? Die Lichtregie von Matthias Hönig und Victor Schenke wird hier zum Raum, liefert die Perspektive des Geschehens und wird damit zu einem ebenso eigenständigen Teil des Gesamtkunstwerkes, in dem manchmal sogar der tanzende Mensch ganz verschwindet. 

Für die Choreografie und Inszenierung sorgte der amtierende Chef der Ballett-Compagnie Michal Sedláček; für die Musik der Perkussionist der Staatskapelle Ivo Nitschke, der selbst mit auf der Bühne saß bzw. mit seinen Apparaturen aus der Versenkung auftauchte. Für seine aktuelle Komposition hat er sogar ein „Trothonium“ erfunden und aus Teilen zusammengebaut, die er auf einem Schrottplatz im Hallenser Stadtteil Trotha gefunden hat. Es ist nicht seine erste Komposition für das Ballett. Schon 2016 wurde er für sein musikalisches Feuerwerk zu „Groovin’ Bodies“ in der Raumbühne gefeiert. Damals choreografierten sich die Tänzer gleichsam selbst – diesmal ist es im Grunde eine Nummernrevue, die oft das 18-köpfige Ensemble komplett fordert. Soli, Pas de Deux und kleinere Ensemblenummern münden meist in Tableaus und entfalten da, wo sie eng mit der Musik korrespondieren, illustrierenden Charme. 

Es beginnt, als wär’s eine Art Rheingoldvorspiel. Mit dem pulsend atmenden Schattenriss einer Masse, aus der Hände und schließlich ein Mensch erwachsen. Die Welt wie aus der Höhle von Platons Gleichnis gesehen. Langsam erwacht nach und nach das Leben als Bewegung von Menschen. Johan Plaitano ist und bleibt an diesem Abend das exemplarische Individuum. Der Franzose bekommt auch später Raum, sein Charisma zu entfalten. Besonders mit den geschmeidigen Bewegungen aus dem Körper, die wie Flugversuche wirken. 

Aus dem Graben ziehen sich sechs Händepaare auf die Bühne empor. Die minimalistische Musik eskaliert. Eine Welt hinter dem Gaze-Vorhang und eine davor entfalten ihre eigene Dynamik. Momente der Synchronität blitzen auf. Nach einer Viertelstunde fällt der Zwischenvorhang, mit dem sie jetzt alle gemeinsam spielen. Trommeltöne sorgen für eine exotische Atmosphäre, Bildschirme beleuchten nur die Gesichter der Tänzer, die sie halten. Im Wechsel von Soli und Ensembleszenen bilden sich szenische Tableaus, deren Reiz mitunter mehr aus der anziehenden Intensität der Musik erwächst. Zumal dann, wenn die Dunkelheit die Körper verschluckt.  Wenn Perkussionklänge die Führung übernehmen, dann zucken die Schultern und die Körper marschieren gleichsam innerlich. 

Dann wieder atmet die Musik auch mal durch, klingt wie der Entspannungssoundtrack in einem Wellnessbereich, der Urwaldklänge imaginiert. Auf der Bühne, die die Streicher und Bläser der Staatskapelle im Hintergrund einbezieht, wird durch hochfahrende Hebepodeste aufgebrochen. Daneben glänzt Nitschke mit seiner Perkussion. Jetzt muten die Bewegungen futuristisch an, erinnern an die Bedienung einer mechanischen Schreibmaschine. Von Ferne lassen die Hammerschläge der Nibelungen grüßen. Sie wechseln mit einem Raunen aus dem Hintergrund. So wie die Phasen der rhythmischen Eskalation mit denen des Atemholens wechseln, so verhält es sich auch mit den Farben Blau auf Rot. Oder mit den zwei Varianten der unisex-Kostümen von Cordula Erlenkötter.

Wenn plötzlich alle mit lateinamerikanischen Rhythmen die Anmutung von Tanzturnieren parodieren, dann kommt endlich auch einmal Heiterkeit auf. Bis ein Lichtgitter über die Szene projiziert wird und die Menschen zu Zeichen werden. 

Die Choreografie für die Soli, die Pas de Deux oder Ensembles sind nicht alle von gleichem Einfallsreichtum oder dem Ehrgeiz getragen, überraschend Originelles zu bieten. Manches bleibt im illustrierenden Tableau oder schlichten Bewegungsornament. Das effektvolle Spiel mit dem grafischen Lichtgitterkonstrukt, das wie ein Himmel über ihnen schwebt, füllt da auch eine Lücke. Wenn die Musik mit Musical-, Stummfilm oder Krimi-Anklängen spielt, kommt auch szenisch dosierter Witz auf. Kreisen aber nur Leuchtkugeln, dann ist das Spiel mit der Dunkelheit – vor allem in der Übertragung im Netz, aber auch im Saal – optisch deutlich an seinen Grenzen. Da hat sich der Einfall verselbständigt. Leider bleibt in der Abfolge der Nummern die innere Dramaturgie – ganz so wie allzuoft auch die Tänzer selbst – im Dunkeln. Gleichwohl hat das Zusammenspiel von Musikern und Tänzern, von sparsam eingesetztem Licht und flutender Dunkelheit, von Klang und Bewegung, und da von streicherbegleiteter Harmonie und perkussionsgestützter Explosion über weite Strecken einen eigenen Reiz. Was manche Defizite an Originalität der Einzelchoreografie kompensiert. Wenn sich am Ende der gefühlt zwei Dutzend Nummern das Leuchtröhrenkonstrukt langsam senkt, dann könnte das auch der Himmel sein, der auf die Erde stürzt. Also doch ein Stück getanztes Welttheater? Mit Menschen im vergeblichen Kampf gegen das abnehmende Licht? Wer weiß. Vielleicht liefert ein Art*House im Licht irgendwann die Antwort…. 

Diese Premiere, mit den Musikern auf der Bühne und den Zuschauern daheim vor ihren Bildschirmen, ist ein weiteres Beispiel für die unter den gegebenen Umständen zweitbeste Variante, um mit den Beschränkungen durch die Pandemiebekämpfung klar zu kommen. In Halle gab es Mitte November die Generalprobe mit einer Handvoll Journalisten im ersten Rang. Am Wochenende war die Premiere im Netz für 24 Stunden allen Ballett-Liebhabern zugänglich.

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