Lange stand vor allem die Frage nach dem musikalischen Material und das „Neu-Alt-Problem“ im Zentrum der Auseinandersetzung mit Neuer Musik. Dieser Feststellung des Komponisten Nicolaus A. Huber im Programmheft der 70. Frühjahrstagung dürfte kaum jemand widersprechen. Inzwischen aber, so Tagungsleiter Jörn Peter Hiekel in seinem Einführungsvortrag, hätten neue Entwicklungen in den Kulturwissenschaften, insbesondere die performative Wende in der Theaterwissenschaft, geholfen, Musik nicht mehr nur als „Text“ zu begreifen. Gerade der lange versäumte Blick auf das Körperliche helfe, die Vielfalt der Musik der letzten Jahrzehnte in den Blick zu bekommen.
Wie üblich, waren zwei Komponisten eingeladen, neben Huber auch Heinz Holliger. Der bekannte im Gespräch mit Wolfgang Rüdiger ziemlich schnell: „Der Körper ist ja eigentlich gar nicht mein Thema. Der ist ja sowieso da.“ Wenig später rückte er mit der Idee heraus, ein Symposium abzuhalten über die Frage, „was geschieht, wenn man den Körper nicht mehr ernst nimmt und einfach auf unsere Synapsen einen Bum-bum-bum-Rhythmus reinschlägt – was schon bei ganz kleinen Kindern mit Erfolg appliziert wird, so dass nachher eigentlich kein Mensch mehr fähig ist, einen komplexen Rhythmus begreifen und aufzunehmen.“ Mit diesem Vorschlag war der 76-jährige im wörtlichen Sinne am Puls der Zeit. Denn nichts schlägt in unserer Gesellschaft musikalisch stärker durch als dröhnende und regelmäßige Beats, und nichts – außer dem Fehlen konventioneller melodischer Strukturen – erschwert den Zugang zu Neuer Musik so wie ihre a-metrischen oder rhythmisch überkomplizierten Strukturen.
So recht thematisiert wurde das Problem als gesellschaftliches nicht. Vielleicht hätte man doch Holligers „Cardiophonie“ für Oboe und 3 Magnetophone (oder Live-Elektronik) ins Programm nehmen sollen, die Stefan Drees in seinem Vortrag über „Konzeptionen zur medialen Verknüpfung von Körper und Technologie“ erwähnte. Hier wird der Herzschlag des Oboisten zum Puls der Musik; da die immer komplexeren Spielanweisungen den Herzschlag in die Höhe treiben, entsteht ein Teufelskreis, der den Interpreten zum Zusammenbruch oder in die Flucht treibt. Besser als mit diesem 25 Jahre alten Stück kann man eigentlich den vom Jenaer Soziologen Hartmut Rosa diagnostizierten Beschleunigungszirkel in unserer Gesellschaft kaum „verkörpern“.
Von der Interpreten-Seite wagte sich der in Berlin lebende Dirigent und Pianist Pavlos Antoniadis an das Problem der Überkomplexität. In seiner Lecture-Performance „In Ketten tanzen“ spürte er die physisch-musikalischen Gesten auf, die sich hinter dem eigentlich unspielbaren Notentext von Brian Ferneyhoughs Klavierkomposition „Lemma-Icon-Epigram“ verbergen. Am IRCAM in Paris und am Exzellenz-Labor der GREAM (Groupe de Recherches Expérimentales sur l’Acte Musical) hat er ein komplexes Computerprogramm zur Erfassung dieser „körperlichen Navigation“ entwickelt. Das war recht eindrucksvoll, hinterließ aber doch den Verdacht, dass sich mit pianistischer Erfahrung und Augenmaß per Papier und Bleistift ein ähnlich aussagekräftiges Ergebnis ermitteln ließe.
Besonders lohnend war die Lecture-Performance von Wolfgang Lessing und Wolfgang Rüdiger über „musikalisches Embodiment“. Hier ging es einerseits um Körperlichkeit als Grunddimension des Musiklernens und Musikmachens – ein Aspekt, an den Wilfried Gruhns Vortrag über „Musikalische Gestik als Modus von Komposition und Interpretation“ sinnvoll anknüpfte –, andererseits darum, dass die Körperlichkeit als solche zum Thema wird. Beide Referenten banden ihr eigenes Instrumentalspiel eindrucksvoll in den Vortrag mit ein. Lessing demonstrierte am Violoncello Ausschnitte aus Robin Hoffmanns Solostück „Schleifers Methoden“, in dem unbewusst gegen die übliche Instrumentaltechnik ankomponiert wurde; und Rüdiger setzte sich in der Fagottpartie von Nicolaus A. Hubers „Konzert für naturmodulierte Soli und Ensemble“ widersprüchlichen Kommandos zur Körperhaltung aus, die zwar aus Heidi Klums Casting Show „Germany’s Next Topmodel“ stammten, aber durchaus an die wohlmeinenden Ratschläge von Gesangs- oder Instrumentalpädagogen erinnerten. Nicht nur hier schien auf der Tagung eine Nähe zu alten Konzepten von Dada und Fluxus auf. Matthias Handschick knüpfte in seinem Schulmusiker-Workshop sogar explizit daran an.
Nicht immer bewährt es sich, einen Komponisten zu einer Lecture-Performance oder einem Vortrag einzuladen. Nicolaus A. Huber gab eine Fülle von interessanten Hinweisen zu seinem Komponieren, ließ aber kein Konzept erkennen. Gerhard Stäbler zelebrierte in Wort und Tat sich selbst und seine Arbeiten, agierte dabei allerdings nur für die ersten drei Sitzreihen; schon in der vierten Reihe war fast nichts mehr zu sehen. Seine titelgebende These „Eine Bratpfanne gehört ins Gepäck eines Komponisten“ blieb unbehandelt im Raume stehen. Tatsächlich eine Bratpfanne dabei hatte Uwe Rasch; er stellte sie sogar auf eine Kochplatte und briet ein Steak. Der Konzentration im schon leicht ausgehungerten Auditorium war das allerdings wenig förderlich; zudem bruzzelte die Pfanne so laut, dass man den leise sprechenden Komponisten kaum verstand. Vielleicht war hier ein Happening nach Fluxus-Art beabsichtigt, doch lag der Verdacht auf versehentlichen Dadaismus näher. Angenehm klar, anhand von gut ausgewählten Musikbeispielen und ohne Überziehung der Redezeit erläuterte Clemens Gadenstätter seinen Begriff von Verstehen „als Projektion sinnlicher Ereigniss auf körperlich vermittelte Erfahrung und Vorstellungen“; es dürfte sich lohnen, diesen Beitrag in dem für Anfang 2017 geplanten Tagungsband nachzulesen.
Weniger ertragreich erwies sich das Gespräch von Christa Brüstle mit der renommierten Choreographin Sasha Waltz, die es zwar genoss, von ihrer gewiss interessanten Arbeit zu erzählen, dabei aber den Zusammenhang zwischen Tanz und Musik aus dem Blick verlor und sogar einen Werbetrailer zeigte, in dem ihren Choreografien unpassende Musik unterschoben war. Ausgesprochen erfrischend und instruktiv war der englischsprachige Vortrag der irischen, in London lebenden Komponistin und Vokalartistin Jennifer Walshe. Sie zeigte, wie aus der Verbindung von Musik, Tanz, Stimmartistik und Comedy mit Video, Internet und Smartphone unter Beteiligung von Profis und Laien ein ganz neues Genre von Bühnenkunst entsteht. „Musiktheater“ will sie das nicht nennen, der Begriff sei „so 70er, so kagelig“. Mit „The Total Mountain“ für Performerin, Video und Live-Elektronik trat sie dann am Abend selbst auf. Das phasenweise auch immer wieder sehr komische Stück erwies sich als plausible Widerspiegelung einer Stimmung, die Walshe selbst am Nachmittag als „dunkle Euphorie“ („dark euphoria“) beschrieben hatte – ein Sich-Selbst-Berauschen an den technischen Möglichkeiten und an der eigenen Selbstdarstellung vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Krisen in Politik und Gesellschaft.
Nicht immer galt also auf dieser Tagung, was zwei junge Protagonisten der Freiburger Initiative „Neues Zeug“ am Donnerstagabend feststellten: „Die Komponisten bleiben unter sich und bilden elitäre Kreise.“ Da dies aber oft genug noch geschieht, ist dem erfolgreich angelaufenen Projekt weiter Erfolg zu wünschen; denn „es sollte eine Instrumentalmusik für Kinder und Jugendliche geben, die, in einer zeitgenössischen Musiksprache, Kinder gleichermaßen ernst nimmt und ihnen Freude bereitet, die Schwierigkeiten aufweist, aber spielbar ist.“ Nimmt man aber die gut 100 Minuten lange Abschlusspräsentation am Samstag zum Maßstab, ist es auch auf der Tagung schon gelungen, den Abstand zwischen Laien und Experten deutlich zu verringern. Summend, plappernd, hechelnd, rufend, seufzend, singend, pfeifend, murmelnd und lachend, ließ der von dem englischen Vokalartisten Phil Minton angeleitete „wilde Chor“ („feral choir“) ganze Klanglandschaften entstehen. Und der vom Münsteraner Komponisten und Schlagzeuger Stephan Froleyks trainierte Interpretations- und Improvisationskurs für junge Leute ab 12 Jahren präsentierte hochprofessionell ein ganzes Konzertprogramm mit drei Uraufführungen und ausgefeilten Übergängen zwischen den einzelnen Stücken.