Armin Petras, der Autor, Regisseur und Co-Schauspielchef des Staatstheaters Cottbus, beginnt die neue Spielzeit mit einem Musiktheaterprojekt. Als Librettist und Regisseur. Sebastian Vogel und Thomas Kürstner haben den Text vertont, den er aus Franz Fühmanns fragmentarisch überliefertem Großprojekt „Im Berg“ destilliert hat.
Franz Fühmann (1922-1984) war einer der Großen der DDR-Literatur. Am Baum der deutschen Literatur (in dessen Krone verortete Stephan Hermlin einmal, was in der DDR entstand) gehörte er zu den knorrigen, aber starken Ästen, die trotzig Richtung Osten zeigten. Er war eigensinnig wie viele seiner Kollegen. Einschließlich derer, die in den Jahren nach Fühmanns Tod im Lande blieben, während das ganze Land (wie es im Text heißt) eine Inventur gebraucht hätte. Fühmann hatte seine Leser und die eigene Geschichte mit dem Regime. Als Kinderbuchautor, Übersetzer, Nachdichter war er etabliert – als Autor einer großartigen Georg-Trakl-Auseinandersetzung mit dem Titel „Vor Feuerschlünden“ (im Westen unter dem Titel „Der Sturz des Engels“) gehörte er zu denen, die vom literarischen Olymp aus die Begleitmusik zum Verdämmern der DDR intonierten. Auf dem sagenhaften, im besten Fall belächelten „Bitterfelder Weg“ ist er mitmarschiert. Hinterher ist man immer klüger. Dass Verbitterung am Ende zu seiner Gemütsverfassung zählte, ist nicht nur ein Wortkalauer, es beschreibt einen Deutschen, der in seiner Jugend ein strammer Nazi, später ein Stalinist war. Er hat sich den Weg aus so unkritischer Nähe in die kritische Distanz erkämpft, ja durchlitten, bis er seine Position als Unzeitgemäßer einnahm und nicht mehr hergab. In den Siebziger Jahren ließ er sich von seiner Autorenneugier verführen, vor allem tiefer zu loten und im wahrsten Sinne des Wortes, vor allem aber im übertragenen des Autors, der mit Worten gräbt, ins Bergwerk einzufahren.
„Im Berg“ sollte sein opus magnum werden. Es blieb ein umfangreiches Fragment. Erst nach seinem Tod erschien es mit dem Untertitel „Bericht eines Scheiterns.“ Ein Titel mit dem Beigeschmack von doppelter Wahrheit. Der meint den Bericht und wohl auch seinen Gegenstand. Es geht um die Heroisierung der Arbeit und der Arbeiter als Veränderung und Veränderer der Natur. Also um eine Utopie der gesellschaftsverändernden Kraft von Literatur, deren Enthusiasmus doch nur den Herrschenden als Instrument des Machterhaltes dienen sollte. Trotz allem entfaltete sie ein trotziges Selbstbewusstsein. Davon sieht man auch im Stück die eine oder andere Andeutung.
Der Dichter Franz (entfernt ähnelt Schauspieler Robert Kuchenbuch im weißen Rollkragenpullover Fühmann sogar) und der Brigadier Siegfried (für den sich Nils Stäfe mit ganzer Körperwucht und voller Stimmkraft ins Zeug legt) fahren in den Berg, erkunden ihn, kommen der Herausforderung des Bergbaus und einander näher. Nicht gleich wie Faust und Mephisto, aber doch gemeinsam auf einer Reise in die Tiefe und durch die Zeit.
Der Sog in die Tiefe dominiert nicht nur die effektvollen Videos von Rebecca Riedel, sondern gleich die ganze Bühne von Peta Schickart. Es ist eine steile Schräge. Oben, über Tage, ein schmaler Ausschnitt als Spielfläche. Eine zweite befindet sich unten vor der Rampe. Hier stehen im Vorspiel zwei alte Frauen, Trude (Charlotte Müller) und Elly (Michaela Winterstein), an der Bushaltestelle. Sie kommen von einem Ausflug zum Kyffhäuserdenkmal. Verdorbene Schlagsahne hat fatale Folgen, liefert die Vorlage für einen (sehr) mäßig witzigen Slapstick.
Danach folgen 19 Szenen, die immer wieder den Schulterschluss zu unter der alltäglichen Oberfläche lauernden literarischen Vorlagen suchen. Was mehr oder weniger gelingt. Mehr beim Rückgriff auf E.T.A. Hoffmanns „Bergwerk von Falun“, bei dem eine treue Braut als alte Frau den perfekt konservierten Körper ihres jung verschütteten Bräutigams findet. Weniger, wenn sich eine Frauentagsfeier als Walpurgisnacht ausgibt. Oder wenn sich die Frauen nach einem Unfall mit dem Wartburg als Bakchen entpuppen.
Das Rednerpult hinter dem sich der Dichter zu erklären versucht, die Platten-Neubauwohnung für den Brigadier und seine flotte Regina (Lisa Schützenberger ist in ihrem zweiten Leben die Königin der Unterwelt), die Journalistin Gabi (Charlotte Müller als smarte junge Frau), die den Künstler, der sich auf Erkundungstour unter die Arbeiter begeben hat, ihrerseits erkunden soll, aber auch die Funktionärsmittelmäßigkeit, die Thorsten Coers als BGLer (für die Nicht-Ostgeborenen: die Abkürzung steht für Betriebsgewerkschaftsleitung), Arzt und Obertroll ausstrahlt, oder Julia Domkes ordensgeschmückte, zukunftsgewisse Parteisekretärin – alles und alle gehören in die Inventur einer Gesellschaft auf dem Weg nach unten. In der harmlosen Variante, um der Erde ihre Schätze zu entreißen und das allein schon für Lebenssinn und Fortschritt zu halten. In der doppelbödigen auf das Ende einer Gesellschaft zu, die hier einen Unfall vertuscht, und dort einem Spitzenarbeiter Handschellen verpasst, weil der sich auf den Weg weg aus diesem Land machen wollte.
Das Bemühen um ein Gesellschaftspanorama mit Tiefgang ist nobel und erkennbar. Allein die Szenenfolge kommt nicht wirklich über einen Ausflug in eine vergangene Zeit hinaus. Serviert werden nicht gleich verdorbene Schlagsahne, aber doch vor allem etwas verblasste Klischees einer Gesellschaft, die sich in der Erinnerung entfernt. „Im Berg“ verklärt nichts, aber findet auch nicht die wirklich ertragreiche Ader mit den Rohstoffen, die es bräuchte, um im Hier und Heute weiterzukommen.
Der Musik der beiden versierten Bühnenkomponisten, die eine zehnköpfige Abordnung des Philharmonischen Orchesters unter Leitung von Johannes Zurl beisteuert, geht es so ähnlich. Zum Streichquintett aus zwei Geigen, Bratsche, Cello und Kontrabass, kommen Klarinette, Trompete und drei Spieler mit üppigem Schlagwerk. Dass es außer bei den Geigen von jedem der zum Einsatz kommenden Instrumente nur ein Exemplar gibt, betont bewusst das Individuelle gegenüber der Gemeinschaft, das Solo gegen den grundierenden Sound. Die Musik bleibt aber vor allem Begleitung und Fundament eines von allen singenden Protagonisten vorzüglich gebotenen Parlandos. In der dringlichen Diktion erinnert sie oft an einen Widerschein von musikalischer DDR-Moderne a la Paul Dessau. Was ebenso als Qualitätsausweis gelten darf, wie der Rückgriff auf einen heutzutage unterschätzten Dichter wie Franz Fühmann. Gut gemeint und auch gut gemacht – das ja. Einen echten Schatz haben sie aber nicht zu tage gefördert. Am Ende ist das Bergwerk eingestürzt. Fühmann konnte nur einen Bericht des Scheiterns liefern. Und dabei bleibt es letztlich auch.