Neigt sich die Kultursaison dem Ende zu, entsteht Zeitdruck. Was noch auf die Bühne gelangt, ist schnell abgespielt oder verliert nach der Sommerpause an Interesse. So habe ich Zemlinskys „Kreidekreis“ in Karlsruhe wie auch Bergs „Wozzeck“ in Essen versäumt, nicht aber „INES“ von Ondřej Adámek, ein Auftragswerk der Oper Köln, dirigiert vom Komponisten, da GMD François-Xavier Roth sich nach schwerwiegenden Belästigungs-Vorwürfen aktuell von allen dirigentischen Aktivitäten zurückgezogen hat.
Bechers Bilanz – Juni 2024: Besser nicht „Gute Unterhaltung“ wünschen
Köln: „INES“ von Ondřej Adámek
Die Einsamkeit nach dem atomaren Unfall
Die Oper des tschechischen Komponisten trägt einen harmlosen Titel und variiert die herzzerreißende Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydike. Beides ist nur Tarnung. Denn „INES“ steht für eine Skala, nach der international nukleare Störfälle etikettiert werden. Adámek und seine Librettistin und Regisseurin Katharina Schmitt umkreisen die gesellschaftlichen wie individuellen Folgen eines atomaren Unfalls. Ein Opernabend also, bei dem das Einlasspersonal besser nicht „Gute Unterhaltung“ wünscht. Die Gefahr des kulturellen Katastrophenschauderns liegt nahe. Adámek umgeht sie, indem er Opernkonventionen ignoriert und auf Kantilenen, auch kantige, im Gesang wie im Orchester weitgehend verzichtet. Ihm wird alles zum Puls: das Wort, der Konsonant, der Klang. Jeder Ton vervielfältigt sich, wirft multiple Schatten. Das brennt, Energie entsteht, doch alles in schwarz/weiß. Farbe bringen erst die aus dem Bühnengeschehen abgeleiteten Stilzitate hinein: Das Orpheusdrama schiebt Barockmusik an, Chorsolisten singen georgische Lieder, die „Hiroshima-Girls“ bezirzen das Publikum mit dem Sound der Andrews Sisters. Die Regisseurin und ihre Ausstatterin Patricia Talacko bespielen den Saal 3 des Staatenhauses in der ganzen Breite und Tiefe, unzählige weiße Müllsäcke verweisen auf das ungelöste Problem des atomaren Abfalls und funkeln im delikaten Licht von Nicol Hungsberg. Hagen Matzeit und Kathrin Zukowski sind das unglückliche Liebespaar; nach ihrem Tod irrt er einsam umher. Beide ernten in der besuchten Vorstellung am 26. Juni lang anhaltenden Applaus – wie auch die gesamte Produktion. Ein Opernhöhepunkt zum Saisonende.
Köln: „Musik der Zeit“ im WDR
Akustische Erinnerungsfotos
Das Symphonieorchester des WDR füllt am 22. Juni auch mit reduzierten Streichern die Bühne im Sendesaal aus. Dass die schwedische Komponistin Lisa Streich dies als „kleines Orchester“ bezeichnet, für das sie die Komposition „Meduse“ im Auftrag des WDR angepasst hat, wirkt weltfremd, ebenso der Umstand, dass sie für den großartigen Trompeter Simon Höfele schreibt, der dann so kaum jemals zu hören ist und vor allem durch das Schwingen eines Gartenschlauches in Erinnerung bleibt. Sei’s drum, man hört der Musik gerne zu mit ihren zärtlichen akustischen Erinnerungsfotos bis hin zur angetrunkenen Kirmes-Musik. Auch der grollende Erdbeben-Klang von Toshio Hosokawa umschmeichelt die Ohren, und die vielen Moll-Melodiechen sehnen sich nach einer Geborgenheit, die es nie gab. „Zerfallene Illusionen“ nennt Patrick Hahn dieses letzte Saisonkonzert von „Musik der Zeit“, Sylvain Cambreling dirigiert drei der vier Kompositionen. Leer bleibt die Bühne bei Péter Eötvös, dem der WDR, ach was: die Neue Musik so viel verdankt. „Mese“ ist eine elektronische Studie über das Märchen-Vorlesen. Wie viele Tonband-Schätze schlummern noch im Archiv des WDR? Mehr davon! Und mehr von Philipp Maintz, der in „der zerfall einer illusion in farbige scherben“ seine (wohl wüsten) Berliner Jahre wieder aufleben lässt. Die fulminante Uraufführung ist ein stop and go: Das Orchester rennt los und friert plötzlich in klirrenden Klängen ein. Diese umrahmen den Atem des Akkordeons oder den Gesang einer Amsel wie beim Nachhauseweg aus dem Berghain. Wenn das aus der Studentenzeit hängen bleibt, müssen dessen Abwege zum Ziel geführt haben.
CD: Orchestermusik von Maria Herz
Wiederentdeckung einer vergessenen Komponistin
À propos Märchen: Ich lasse mir ungern ein „Sommermärchen“ verordnen, auch nicht von Medien, die ich sonst mit Zähnen und Klauen verteidige. Zum Märchen gehört nun mal die wundersame Erscheinung, nicht die Ansage, und zum Sommer sechs Wochen Badehose, nicht Regenjacke. Ebenso ungern lasse ich mir die Entdeckung einer Komponistin als „nächster Weinberg“ unterjubeln (gemeint ist der Siegeszug des Komponisten Mieczysław Weinberg), auch nicht die einer Kölnerin. Und doch: Die Orchestermusik von Maria Herz, zuletzt vom Radio-Symphonieorchester Berlin im Auftrag vom Deutschlandradio eingespielt, verdient Aufmerksamkeit. Die junge Frau studiert zwischen den Weltkriegen bei Philipp Jarnach und schreibt dann als deutsche Jüdin in England für die Schublade. Ein Enkel entdeckt die Partituren im Nachlass einer Tante und überzeugt die Spürnasen von Boosey & Hawkes. Die Musik von Maria Herz vereint neoklassizistisches Profil mit impressionistischer Eleganz. Die neue CD bei Capriccio enthält u. a. eine Orchestersuite von 1932: In sieben Miniaturen, die eine gute Viertelstunde dauern, überwiegen die dunklen Töne – trotz der zupackenden Fuge zum Abschluss. Im Mittelpunkt steht ein Marcato, das nach einer katastrophischen Zuspitzung einfach abbricht. Meist aber sind die Charaktere nur angetupft. Gebannt verfolgt man die selbstständigen Orchesterstimmen, das Ideal der Komponistin ist die Zweistimmigkeit, daher fehlt auch jegliche Angeberei (wie Eisler gesagt hätte). Eine echte Alternative zu den ewigen russischen und sowjetischen Meisterwerken im Konzertleben unserer Tage.
Köln: Montagskonzert des Ensemble Musikfabrik
Dylan Lardellis traumhaftes Quintett
Dann und wann lädt das Ensemble Musikfabrik zu sich nach Hause in den Mediapark. Unweit der lärmenden Partymeile gehört der Mediapark zu den wenigen aufgeräumt wirkenden Plätzen Kölns. Eine Fußgängerbrücke wölbt sich über den künstlichen See, aus dem die Reste eines römischen Viaduktes herausragen. Der Probenraum ist abgedunkelt, der Tresen im Vorraum leuchtet einladend. Die „Montagskonzerte“ finden in Köln ihr Publikum. Zwischen 50 und 100 Besucher kommen immer, ein Hauch Werkstattkonzert liegt in der Luft, der Eintritt ist frei. Am 3. Juni entdecke ich hier den Komponisten Dylan Lardelli aus Neuseeland, der für ein Quintett aus Streichern und Holzbläsern eine Musik von seltener Schönheit geschrieben hat: „Drift Aspect“ horcht den Träumen hinterher und klingt wie unter Wasser. Die fünf Instrumente scheinen sämtlich akkordisch zu spielen, so präsent ist das Spektrum an Obertönen, die zuweilen hart aneinander schmirgeln. Dem Quintett „Ombak“ von Lardellis Kompositionslehrer Dieter Mack hört man hingegen an, dass Mack viel lieber ein Orchester gehabt hätte. Und Spaß macht das Duo „RASCH“ von Georges Aperghis, ein achtminütiges Aperçu, in dem Bratsche und Bassklarinette umeinander tänzeln. Als Soundtrack für ein bizarres „Angry Birds“-Bonus-Level dringend empfohlen.
Köln: Frühlingsspitzen in der Musikhochschule
Junge Solist:innen mit großem Orchester
Neben dem Gang in die Werkstatt lohnt immer auch ein Besuch beim Nachwuchs. Die „Frühlingsspitzen“ geben seit 2013 alljährlich Jungstudierenden und Alumnis des Pre-College Cologne die Möglichkeit, mit einem großen Profiorchester auf der Bühne zu stehen. Am 22. Juni dirigiert Alexander Rumpf, Professor an der Kölner Musikhochschule, das Sinfonieorchester Wuppertal, vorn fiebern acht Solistinnen und Solisten zwischen 11 und 17 Jahren mit einschlägigen Konzertsätzen von Beethoven bis Wieniawski. Durch augenzwinkernde Repertoireauswahl ragt Tereza Mikušová heraus, die beim Solocellisten des Beethoven Orchesters Bonn studiert: Sie spielt „Imitating Albeniz“ von Rodion Schtschedrin. Dem russischen Komponisten gelingt es, sich vor dem spanischen Kolorit zu verbeugen und es trotzdem zu verballhornen, und mit Spielfreude und starkem Ton nimmt die junge Cellistin das Publikum für sich ein.
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