In den zehn Jahren seines Bestehens hat Ultraschall, das Festival für Neue Musik, die nach der Uraufführung in den Nischen des Konzertalltags verschwand, unterschiedliche Szenerien wie kaum ein anderes präsentiert. Seine thematischen Schwerpunkte kreisten häufig um Vermittlungsprobleme des Neuen, fragten nach der verschwundenen Avantgarde, stellten Klassiker der Moderne den ganz Jungen gegenüber oder sahen sich in weiten Landstrichen der musikalischen Geographie um.
Rechtzeitig zum zehnjährigen Jubiläum erhielt das Festival ein unverhofftes Geschenk: Was lag näher, als sich im Gedenken an „zwanzig Jahre Mauerfall“ der Musik eines kleinen untergegangenen Landes zu erinnern, dessen hinterbliebene Zeichen man ansonsten so gründlich auszutilgen bemüht ist? Doch was ist eigentlich „DDR-Musik“? Ist sie durch ihren gesellschaftlich-kulturellen Kontext besonders gekennzeichnet?
Der Komponist Georg Katzer unterscheidet „Musik der DDR“ und „Musik in der DDR“ – ideologisch verordnetete Dienstleistung die eine, um weitgehend autonom, an internationalen Standards orientiert die andere. Nur sie kam auch bei Ultraschall zu Gehör, und zwar vorzugsweise aus den „Wendejahren“, die den Programmgestaltern von Deutschlandradio Kultur und rbb Kulturradio „besonders spannend“ erschienen. Man begegnete also wieder jener Komponistengruppe der mittleren Generation, die schon damals als besonders kritisch-kreativ aufgefallen war und auch als einzige die Chance erhielt, im Westen aufgeführt zu werden: Georg Katzer, Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker, Paul-Heinz Dittrich. Richtungsweisend, dass gerade der Außenseiter Jakob Ullmann das Festival quasi eröffnete: Die Vorstellung seines Buches „logos agraphos – Die Entdeckung des Tones in der Musik“ zeigte ihn als tiefen, originellen Denker; seine „komposition für streichquartett 2“ erwies sich in der Interpretation des Pellegrini-Quartetts als zartes Gespinst von gleichwohl hoher Dichte und Konzentration.
Ullmanns strikte Verweigerungshaltung der kaum wahrnehmbaren Geräusche, des auf wenige Intervalle reduzierten Klangmaterials lässt seine Musik für inhaltliche Vereinnahmungen jeglicher Coleur denkbar ungeeignet erscheinen. Christfried Schmidts „Munch-Musik“ bezeichnet in expressionistisch glühender Orchesteropulenz gewiss einen Gegenpol, doch behaupten auch diese Stücke nach Graphiken Edvard Munchs ihre unzeitgemäße, klanglich faszinierende Eigenwilligkeit. In diesem Spannungsfeld wurde deutlich, welch starke Persönlichkeiten sich (nicht nur!) in den liberaleren achtziger Jahren zu Wort meldeten, die den politischen Vorgaben höchst individuelle Lösungen entgegensetzten. Georg Katzers Orchesterstück „Landschaft mit steigender Flut“ war sicherlich das explizit politischste Werk des DDR-Schwerpunkts. Doch 1991 beschwört der Komponist schon längst nicht mehr den Untergang des real existierenden Sozialismus, sondern lenkt mit elektronisch verfremdeten Wassergeräuschen die Assoziationen auf aktuellere Probleme: Das Abschmelzen der Polkappen ist hier ebenso gemeint wie eine andere heranströmende braune Flut.
Nicht von ungefähr nennt auch Steffen Schleiermacher, dessen Karriere erst nach der Wende richtig begann, sein unendlich wiederholbares, aggressiv-ironisches Werk für Blechbläser und Schlagzeug „Sisyphos“. Doch solche Konnotationen werden nie direkt oder plakativ umgesetzt, sind nicht anders Initialzündung einer letztlich musikimmanenten Auseinandersetzung als bei vielen anderen Komponisten irgendwo auf der Welt, die ihre außermusikalischen Wahrnehmungen mehr oder weniger bewusst einfließen lassen. Wenn der 1967 geborene Carsten Hennig, der nach seiner Ausbildung in Dresden internationale Erfahrungen sammeln konnte, in seinem Orchesterstück „Massen“ den Bewegungen von Vogelschwärmen nachspürt, bleibt das in auf und ab sausenden, häufig geräuschhaft erstickten und etwas dünnblütigen Bewegungen nicht ohne Beliebigkeit.
Auf der Sucher nach der eigenen Sprache
Die jüngere Generation, neben Hennig vor allem Sebastian Stier und Benjamin Schweitzer, die noch von ihren DDR-Lehrern geprägt wurden, zeigt sich auf der Suche nach einer eigenen, moderneren Sprache – doch nur Stier erreichte in „Strahlensatz“ (2006) für zwölf Streicher wirklich scharfes Profil. In der Ehrung für die verdienstvolle Edition Juliane Klein – die ebenfalls ihr zehnjähriges Bestehen feiern konnte – steht bereits Ost und West in allzu schöner Einheitlichkeit beeinander – interessanterweise ragte Hermann Kellers 3. Klaviersonate (2007) in spröder, wie gerade erst gefundener Mikrotonalität im Festkonzert des Ensembles Courage daraus hervor.
Eine umfassende Bestandsaufnahme des Musikschaffens in der DDR konnte es bei Ultraschall natürlich nicht geben – Rainer Pöllmann, Programmverantwortlicher für Deutschlandradio Kultur, verwahrte sich geradezu gegen jegliches enzyklopädisches Bestreben. Doch hätte man sich Charakteristischeres gewünscht, das eben nicht nur der Zeit des Aufbruchs und der tendenziellen Angleichung entstammte. Die ohnehin nicht sehr zahlreichen DDR-Werke verblassten im Laufe des diesmal mit 25 Konzerten überreich bestückten Festivals, konnten sich gegen neuere und vielleicht mit mehr Engagement ausgesuchte Kompositionen nur schwer behaupten.
So blieb Friedrich Goldmanns brandneues „Ensemblekonzert 3“ über die Fundamentalnoten eines bachschen Ariosos bloße Handwerkelei gegenüber Enno Poppes vor Vitalität schier berstenden „Scherben“ und dem Schlagzeug und Elektronik immer neuer Klangfacetten abgewinnenden Auftragswerk „Tonband“. Auch eine Paul-Dessau-Ehrung mit einem Gemeinschaftswerk Rainer Bredemeyers, Friedrich Schenkers und Friedrich Goldmanns fiel merkwürdig antiquiert aus. Im Konzert des Sonar-Quartetts hingegen machte Paul-Heinz Dittrichs „Streichquartett III“ von 1987 beste Figur, eine Wanderung durch Novalis’ „Hymnen an die Nacht“ voll fragmentarisch-komplexer Poesie. In erfrischendem Kontrast standen dem die folkloristisch verrätselten, in naivem Singsang befremdenden und doch wieder berührenden „Songs of Innocence and Experience“ (nach Wiiliam Blake) von Walter Zimmermann gegenüber.
Nostalgischer Diskurs
Die Quartett-Darbietungen zu später Stunde waren ein besonderes Higlight bei Ultraschall: Zu hören waren außerdem die heftig aufbegehrenden „Visages des Enfants“ von Volker Heyn, das späte Streichquartett „Im Raum“ von Dieter Schnebel, vom Diotama-Quartett in allen Varianten des räumlichen Musizierens, aber auch der erstaunlichen Anverwandlung traditioneller Versatzstücke zum nostalgischen Diskurs über die Gattung entfaltet, sowie der Zyklus „Liturgia fractal“ des 1967 geborenen Spaniers Alberto Posadas, eine mathematisch-naturwissenschaftlich generierte Hymne auf eine in einem unübersehbaren Liniengewirr explodierende Virtuosität. Herausragend auch das halbszenische Konzert „Diamanten“ vom VocaalLab Nederland, in dem vier Sängerinnen Werke von Scelsi bis Odeh-Tamimi in eine sensibel abgestimmte, weibliche Befindlichkeiten umso unsentimentaler ausdrückende Programmfolge gebracht hatten.
Die Verbundenheit mit außereuropäischen Kulturkreisen gab auch dem Projekt „Joint“ den politischen Impetus: In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Tel-Aviv hatten das Berliner ensemble mosaik und das Nikel-Ensemble Tel-Aviv ein Kammermusikprogramm deutscher und israelischer Komponisten erarbeitet. Menschlich-politisch war diese Begegnung bestimmt ein Gewinn, künstlerisch jedoch durchwachsen: So hatte die Uraufführung von Helmut Oehrings „How fragile we are“ höchstens informatorischen Wert, indem die Spieler zu improvisiert wirkenden Riffs ihre Lebensgeschichten zum Besten gaben. Ruben Seroussis „El corazón verde“ bestach durch farbenprächtige Klangauslotung, Steven Tagasukis „Letters from prison“ durch harte Anklage in elektronischer Zersetzung der Briefe Ernst Tollers. Als aus Israel gebürtiger, in Berlin lebender Palästinenser nahm Samir Odeh-Tamimi eine Sonderstellung ein, die er in „Shattila“ und „Ahinnu“ mit kompromisslos aus der Einstimmigkeit entwickelten Klageorgien auch musikalisch bekräftigte.
Danach zerbröselte das Festival, wirkte stellenweise konturlos. Zweifellos war Mauricio Kagels „Exotica“, mit virtuoser Ernsthaftigkeit zelebriert vom Ensemble modern – diesmal lachte wirklich fast niemand! – noch einmal ein besonderer, doch selbstverständlicher Leckerbissen. Doch von dieser extraterristischen Landschaft aus ausgerechnet das Finnland der Kaija Saariaho aufzusuchen, kann gegenüber dem DDR-Schwerpunkt nicht einmal mehr als Kontrastprogramm durchgehen. Das DAAD-Portrait des Österreichers Wolfgang Suppan enttäuschte mit dem drögen, angeblich Musik und Tanz aufeinander abstimmenden „Drift 3 – 5“ zu nicht minder dürftiger Choreographie.
Ärgerliches Projekt „Meet the artist“
Geradezu ärgerlich das Projekt „Meet the artist“, das zwischen sechs Kurzkonzerten Kontakte zu den Künstlern ermöglichen sollte. Im lieblos hergerichteten Café der Sophiensäle ergaben sich so gut wie keine Gesprächsmöglichkeiten, die auch von niemandem angebahnt wurden. In den Konzerten selbst verschwammen die Konturen der einzelnen Werke in den Klangreizen von Blockflöte und Barockvioline, Flöte und Harfe bei schummriger Beleuchtung – sicher auch eine Frage der Auswahl. Der Pianist Saleem Aboud Ashkar, Mitglied des West-Eastern-Divan-Orchestra, versuchte sich in einem Gesprächskonzert über die Frage „Neue Musik mit arabischem Einfluss?“, der jedoch mit Musik des östlichen Mittelmeerstils á la Paul Ben Haim nicht beizukommen war. Auch die Etüden des Jordaniers Saed Haddad, im Abschlusskonzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin zum Klavierkonzert ausgeweitet, blieben weitgehend in der Beliebigkeit einer murmelnden, in unseren Ohren noch Tonales streifenden Linearität stecken. Ein kitschiges Flötenkonzert von Saariaho, handwerklich gekonnte Klangstudien der Japanerin Malika Kishino – ohne die wohltuende Aggressivität und bewegte Klangsinnlichkeit von „Aksas“ (türkisch: „unregelmäßiger Rhythmus“) des Argentiniers Fabián Panisello wäre das diesjährige Ultraschall-Ende allzuleicht zum Folklorekränzchen geraten.