Hauptbild
Foto: Karl und Monika Forster.
Foto: Karl und Monika Forster.
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Dem Staatstheater Wiesbaden ist mit „Oryx and Crake“ von Søren Nils Eichberg eine packende Opern-Dystopie gelungen

Publikationsdatum
Body

Das Staatstheater Wiesbaden hat eine Opernnovität in Auftrag gegeben, die beim Publikum, auch in den Folgevorstellungen nach der Premiere, zündet. Wie im Aalto-Theater in Essen mit Gordon Kampes „Dogville“-Veroperung nach von Lars von Triers Kultfilm erweist sich das Genre auch in Wiesbaden mit „Oryx and Crake“ als quicklebendig. Der deutsch-dänische Komponist Søren Nils Eichberg (*1973) hat aus der zwanzig Jahre alten Romanvorlage der Kanadierin Margaret Atwood eine Oper gemacht, die in den Bann zieht. Wobei das Libretto von Hannah Dübgen der Roman-Dystopie dicht auf den Fersen bleibt.

Die atemberaubende, existenzielle Fragen stellende Story und ihre Umsetzung als Thriller waren für Eichberg die Anregung für eine intensiv packende, das große spätromantische Orchester und all seine Verführungsmöglichkeiten nutzende Komposition, die zudem den Sängern ergiebige Steilvorlagen für melodisch eingängigen Gesang liefert und das Publikum, dank des verständlichen Parlandos, zu keiner Zeit irgendwo auf der Strecke zurücklässt. Mit dunkel dräuenden Streichern fängt es sofort spannend an und so bleibt es. Selbst die elektronischen Einsprengsel, die das Grundrauschen einer untergegangenen Welt stören, fügen sich ebenso ein, wie das zaghafte Vogelgezwitscher. Das Streicherseufzen, das Oryx begleitet, erinnert gar von Ferne an Brittens mittsommerlichen Zauberwald.

Hinzu kommt, dass Daniela Kerck in ihrer eigenen Ausstattung eine adäquate szenische Form gefunden hat. Hier sind die Videos von Astrid Steiner nicht wie so häufig eine sich selbst genügende Verdopplung dessen, was man ohnehin sieht, also vor allem methodischer Selbstzweck – hier sind sie ein sinnstiftender Bestandteil einer postkatastrophischen Bühnenwelt. Mit einer nur noch erahnbaren Hochhausskyline im Hintergrund (New York auf dem Weg zum „Planeten der Affen“), einer explodierenden Vegetation und einer Fauna, deren Manipulation der steuernden Ausbeutung durch die Menschen längst entglitten ist. Wenn im Video zuerst ein einsamer Hase und dann viele seiner Artgenossen durch einen Wiesen-Wald hoppeln, dann ist die Erinnerung an Dürers Rasenstück und seinen Hasen lediglich ein Gruß aus dem allgemein menschlichen Unterbewussten und keine Assoziation eines zivilisiert aufgewachsenen Menschen.

In dieser Welt hat sich die Menschheit quasi selbst abgeschafft. Der Crake aus dem Titel der Oper ist ein Bösewicht im Format der finsteren Gegenspieler eines James Bond – nur ohne den Helden, der ihn zur Strecke bringt. Bei diesem Crake hat sich die Erkenntnis, dass der Homo Sapiens für die Ressourcen und das klimatische und sonstige Gleichgewicht des Planten von der Herausforderung zur Belastung geworden ist, zu der dialektischen Pointe pervertiert, den Planeten einfach vom Menschen zu befreien. Er entwickelt eine die Libido steigernde, vermeintliche Glückspille, in die er – wie einen Trojaner in ein Computerprogramm – einen Virus eingebaut hat, der eine Seuche auslöst, die in kürzester Zeit zum Tod führt. Für diese Ausgangskonstellation als unmittelbarer Vorstufe der Operngegenwart war die reale weltweite Pandemieerfahrung der letzten beiden Jahre so etwas wie eine erfüllte Prophezeiung. Zumindest eine erneute Bestätigung der Relevanz einer derartiger Dystopie. Geplant war die Uraufführung für die Wiesbadener Maifestspiele 2022 – komponiert, durch die üblichen Vorlaufzeiten im Operngeschäft, natürlich deutlich vor dem Ausbruch der Pandemie.

Der „konstruktive“ Teil dieser großen teuflischen Korrektur der Schöpfung besteht in der Züchtung friedfertiger, einfältiger humanoider Ersatzwesen, denen alle Eigenschaften fehlen, die in die (von Crake so gesehene) Katastrophe führten (Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer). Auch seinem Freund Jimmy hat er Immunität verschafft, damit der sich um diese fantasielosen und sich vegan ernährenden Wesen, die von ihrem Schöpfer Crakes genannt werden, kümmert. Jimmy hat sich als einsiedlerischer Snowman auf einem Baum mehr oder weniger häuslich eingerichtet. Als Rückzugsort im Überlebenskampf mit den außer Kontrolle geratenen, als Ersatzorgan-Produzenten genmanipulierten Schweinen. Er ist der Lehrer oder besser Guru für diese Wesen, denen er die Begriffe für die Welt, nur in sehr kleinen Schritten beizubringen vermag. Und für die ist ihr Schöpfer Crake eine Art Gott. 

Da es in der Oper ganz ohne Liebesgeschichte auch heute nicht geht, ist die ehemalige Sexarbeiterin Oryx die Frau, in die sowohl Jimmy als auch Crake verliebt sind, und die von Crake vor der Katastrophe zum Gesicht der weltweiten Vermarktung seiner heimtückischen Glückspille aufgebaut und ausgenutzt wurde.  

Dramaturgisch muss die Regie im Grunde mit der Einsamkeit eines skurrilen modernen Robinson und dessen monologisierten Erinnerungen an die Zeit unmittelbar vor der Katastrophe umgehen. Dadurch gibt es die zentrale Figur einmal in Gestalt des Snowman (verinnerlicht an sich selbst zweifelnd und mit baritonaler Sinnlichkeit: Benjamin Russell) und als sein jüngeres, vorkatastrophisches Alter Ego Jimmy in Gestalt von Tenor Samuel Levine. Nur der hat direkt mit der schönen Oryx (immer etwas irrlichternd: Anastasiya Taratorkina) und dem skrupellos visionären Crake (Christopher Bolduc) zu tun. Das menschliche Personaltableau vervollständigen Fleuranne Brockway als Jimmys Mutter Sharon und Mikhail Biryukov als dessen Vater, sowie Aaron Schlitt und Philipp Theuke von den Limburger Domsingknaben als die kindlichen Alter Egos von Carke und Jimmy. Von den gesichtslosen Crakes haben die Abraham Lincoln (Tianjin Lin), Sacajawea (Jessica Poppe) und Empress Josephine (Stella An) genannten Crakes eine eigene Stimme, um sich zu artikulieren. Choreografin Rosana Ribeiro bewegt das gesamte Dutzend Craker kollektiv wie lebende Pflanzen im Strom von Wasser. Oder Zeit. 

Dank der geschickt eingesetzten Videoprojektionen über der Bauminstallation auf der Bühne ist der Wechsel zwischen den Erzählebenen in der Abfolge der Szenen, die mit „Awakening / Falling / Eating / Walking / Remembering / Liberating / Returning / Encountering“ überschrieben sind, problemlos möglich. 

Am Ende bemerkt Snowman drei weitere überlebende Menschen an einem Feuer. Das Publikum wird mit Snowmans Frage an sich selbst und uns entlassen, ob er sich den Dreien mit der Waffe in der Hand oder in bekundeter friedlicher Absicht nähren sollte. 

Albert Horne gelingt es am Pult des Hessischen Staatsorchester Wiesbaden durchgängig, die Spannung des atmosphärischen Sounds zu halten, und damit eine packend beklemmende Atmosphäre zu imaginieren, die die Szene durchweg beglaubigt. Und umgekehrt. Jubel in Wiesbaden vor vollbesetztem Haus- auch in der vierten Vorstellung! 

  • Premiere/Uraufführung am Staatstheater Wiesbaden: 18. Februar 23 (Großes Haus)
     

 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!