Es hat Vorteile, dass man die Bühnenmaße der neue Oper Erfurt so gewählt hat, dass sie mit denen des Deutschen Nationaltheaters in Weimar kompatibel sind. Gegen die Allergie der Bürgerschaften, was diverse Fusionsabsichten betrifft, hat das zwar nichts genützt. Aber sinnvoll und technisch problemlos bei Großprojekten kooperieren kann man dadurch allemal. Das war bei den „Meistersingern“, vor drei Jahren so. Und es ist so bei der jüngsten Neuproduktion von Paul Dessaus Oper „Lanzelot“ nach einem Libretto von Heiner Müller, die jetzt in Weimar Premiere hatte. (In Erfurt dann ab 16. Mai 2020).
Für Paul Dessaus dritte Oper nach „Die Verurteilung des Lukullus“ (1951) und „Puntila“ (1966) fanden sich zwei Ikonen der Kunstszene der DDR zusammen. Jeder auf seinem Feld von überragender Bedeutung. Beide erklärte Anhänger des Sozialismusexperiments DDR, aber so eigenständig im Denken, dass das den dauernden Zoff mit den Herrschenden einschloss.
Paul Dessau erkannte in der legendären Inszenierung des Märchenstückes „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz durch Benno Besson 1965 am Deutschen Theater in Berlin die Operntauglichkeit des Stoffes. Das 1943 geschriebene Stück war „natürlich“ zunächst mal verboten und wurde erst acht Jahre nach Stalins Tod uraufgeführt. Ihre Oper kriegten Dessau und Müller aber nicht nur gemeinsam fertig, sondern sie setzten auch die Premiere in der Berliner Staatsoper unter den Linden durch. Das war zur Halbzeit der Existenz der DDR – 1969. Dass Dessaus Ehefrau Ruth Berghaus inszenierte, war ein zusätzlicher Ritterschlag. Auch sie war auf ihrem Gebiet ein Musterbeispiel von klarer politischer Haltung einerseits und einer ästhetischen Konsequenz, die sie in Dauerkonflikte mit herrschenden Vorstellungen brachte und – so pragmatisch war man dann doch – zum Exportschlager in Richtung Westen machte.
Wenn jetzt nach einem halben Jahrhundert Peter Konwitschny (74) bei der jüngsten Thüringer Theatergroßtat Regie führt, dann hat das in mehrfacher Hinsicht seine Richtigkeit. Der mittlerweile zum Regiealtmeister gereifte, hat als junger Mann alle Drei kennengelernt, von den Arbeitsbegegnungen nachhaltig profitiert und könnte sich tatsächlich mit einigem Recht als deren Erbe verstehen. Nicht nur seine dezidiert politisch kritische Haltung zu den Schieflagen der Gegenwart, auch sein dem Kern der Stücke zugewandter Inszenierungsstil, kommt der Struktur von „Lanzelot“ besonders entgegen.
Fünfzehn auf offener Szene wechselnde Bilder, zwischen Massenauflauf und kammermusikalischer Intimität; die Positionierung von schwerer Schlagzeug-Artillerie in zwei riesigen fahrbaren Käfigen auf der Bühne und ein pragmatischer Umgang mit dem verbleibenden Platz; die Konzentration auf klar gezeichnete Protagonisten im Wechselspiel mit dem ganz und gar nicht revolutionären Verhalten (bzw. Nichtverhalten) der Massen. Der Drache als das personifizierte, selbstgefällige Symbol einer Macht, in dessen Schatten sich alle eingerichtet haben. Der Gründungsmythos dieser Ordnung ist die Befreiung der Menschen von der Cholera durch den Drachen. Vor langer Zeit. Durch das Abkochen von Wasser. Konwitschny und sein Ausstatter Helmut Brade übersetzen das mit einem augenzwinkernden „Jedem seinen Tauchsieder“ in die konsumierende Gegenwart. Dass es die bei „Müller Elektro“ gibt, gehört zum verschmitzten Witz, der in dieser Inszenierung bei allem Ernst immer wieder aufblitzt. Etwa, wenn der Drache in seinem Überwachungsraum diverse Kleinbürgerfamilien im Müllerweg, der Dessauer Straße oder Am Berghaus ausspioniert. Hintergründig Subtiles hat auch Müller an vielen Stellen geschickt eingeflochten. Etwa wenn der Bürgermeister seine „Opposition“ erst zum Opponieren auffordern muss und diese sich als schnell umkippende Pappkameraden erweisen. Von gespenstischer Hellsichtigkeit ist das, was Lanzelot über jedes Beschwerdebuch zu berichten weiß, in dem Gras und Gebirge, Wälder und Steine, Flüsse und Meere Tag für Tag ihre Beschwerden eintragen – „Sie sehen, was die Menschen tun und leiden“, wohlgemerkt: 1969!
Oder wenn er dem Drachen ein ziemlich pessimistisches Menschenbild in den Mund legt: „Ich habe zweitausend Jahre lang zum Frühstück jeden Tag einen Philosophen gegessen, aber ich weiß immer noch nicht, was das ist: ein Mensch. Aber das weiß ich: Für die Freiheit ist er nicht geschaffen. Keine Kette schneidet so tief in sein Fleisch. …. Für diesen Auswurf willst du sterben?“ So der Drache vor 50 Jahren.
In der Stadt, die der Drache beherrscht und die Lanzelot ob sie will oder nicht befreiten will, ist die Gegenleistung der Massen für Ruhe und Ordnung jährlich eine Jungfrau. Heiraten heißt hier: das sie dem Drachen zum Fraß vorgeworfen wird, und das auch noch für ein Glück halten soll! Elsa will aber nicht. Sie durchschaut das Spiel und verliebt sich in den Drachentöter Lanzelot, der die Leute vom Joch des Drachen befreien will, ihn fordert und gewinnt. Aber die unfreiwillig Befreiten, befreien sich nur von ihren Krawatten mit dem Drachenlogo. Von dessen manipulierender Machtlogik kommen sie nicht los. Das ist genau die Problematik, um die diese Inszenierung kreist. Und die sie so aktuell macht, ohne je platt zu werden. Die Frage, ob man jemanden auch gegen seinen Willen zu seinem Glück zwingen sollte führt geradewegs in ein Dilemma. Auch das macht die Inszenierung so aktuell. Diese Oper findet viele Anschlussstellen an die Diskurse der Gegenwart. Dass in Weimar am Ende Lanzelot in einem Boot mit Flüchtlingen in die Siegesfeier platzt, ist nur die letzte Episode in der Geschichte einer Gesellschaft, die sich gerade wieder einzurichten begann.
Dass Peter Konwitschny diese überfällige Ausgrabung in Weimar jetzt inszeniert, ist nicht nur gleichsam historisch legitimiert. Sie ist in der künstlerischen Umsetzung ein Glücksfall, zu der man den beiden Intendanten Hasko Weber (und vor allem seinem Operndirektor Hans-Georg Wegner) und Guy Montavon nur gratulieren kann! Wenn mittlere Opernhäuser, abseits der großen Metropolen, so etwas zustande bringen, dann ist das die eigentliche Basis für den Weltruf des deutschen Stadttheatersystems! Die Meistersinger vor drei Jahren als Probelauf der Kooperation, Tilmann Köhlers Weimarer Inszenierung von Jewgeni Schwarz’ Märchenkomödie „Der Drache“ als Wende-Theater zum Mitmachen vor 13 Jahren in Weimar gewissermaßen als Vorbereitung fürs Publikum und jetzt die ganz große Oper!
Wenn Dominik Beykirch nicht sowieso schon ein Publikumsliebling in Weimar wäre – jetzt hätte der 29-jährige Kapellmeister der Staatskapelle , der obendrein das Material in aufwendiger Vorarbeit eingerichtet hat, wohl den letzten Zweifler überzeugt! Atemberaubend wie der den gewaltigen Orchesterapparat zusammenhält, zwischen entfesseltem Losdonnern und kammermusikalischer Rücknahme wechselt, die Sänger stützt und Freude an den zitierenden Passagen in Dessaus Partitur zelebriert.
Die 30 Solopartien kann man nicht alle nennen. Unbedingt aber müssen Emily Hinrichs als Elsa und der Erfurter Ensemblestar Máté Sólyom-Nagy als Lanzelot, Oleksandr Pushniak als Drache und Wolfgang Schwaninger als in jeder Hinsicht wendiger Bürgermeister erwähnt werden. Aber auch alle andere überzeugen restlos. So wie die von Jens Petereit, Andreas Ketelhut und Cordula Fischer einstudierten Chöre.
Ein Riesenaufwand für einen überwältigenden Erfolg! Die außergewöhnliche Dichte von Prominenz der Branche bei dieser Premiere in Weimar lässt darauf hoffen, dass sich Nachahmer andernorts ermutigen lassen. Ein überzeugenderes Plädoyer als diese Inszenierung für Lanzelot kann man sich kaum vorstellen. Bravo.