Hauptbild
Alles ist in kräftiges und nebliges rot getaucht. In einem Nachthemd gekleidet steht Laura inmitten von Menschen mit übergroßen Büsten kommunistischer Größen. Ein Stern hängt von der Decke.

Laura (r., Nino Machaidze) im „Revoluzione“-Wahn von Krystian Ladas ersten Teil von „Revoluzioni e Notalgia“. Foto: Karl Forster

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Die Brüsseler La Monnaie-Oper gibt mit dem „Revoluzioni e Notalgia“ ein packendes zweigeteiltes Verdi-Pasticcio

Vorspann / Teaser

Peter de Caluve hat das Genre natürlich nicht erfunden. Aber die Pasticcio-Produktionen an der Brüssler La Monnaie Oper werden die Habenseite seiner 2025 zu Ende gehenden Intendantenjahre zieren. Die jüngsten beiden Pasticcio-Produktionen kombinieren keineswegs Musik aus dem Barock, wo das gängige Praxis war. In Brüssel gab es neu gebaute Opern mit Musik von Heroen des 19. Jahrhunderts. Aus Donizettis „Il Castello di Kenilworth“, „Anna Bolena“, „Maria Stuarda“ und „Roberto Devereux“ entstand 2023 der Zweiteiler „Bastarda“ über den Aufstieg und Fall von Königin Elisabeth I. Ein theatralischer Wurf, der von Shakespeares Theater profitierte und mit historischer Prachtentfaltung auch vokal glänzte. 

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Jetzt folgte der Zweiteiler „Revoluzione e Nostalgia“ - eine neues Verdi-Doppel, das die 68er Revolte, die auch Italien erfasste, mit einer operntauglichen Liebesgeschichte verbindet. 

Der erste, mit drei Nettostunden längere Abend „Revoluzione“ endet mit heroischen Gesten auf den Barrikaden und mit dem nicht ganz geklärten Tod der Heldin Laura, die wohl Ulrike Meinhof nachempfunden ist. Der alte Spontispruch „Das Private ist politisch und das Politische ist privat“ feiert hier Urstände, fühlen sich doch der smarte Werftarbeiter und Amateurboxer Carlo und der politisch engagierte Musikstudent Lorenzo zu ihr hingezogen. Lauras ebenfalls boxender Bruder Giuseppe studiert Ingenieurwissenschaft und ist mit Filmstudentin Christina befreundet, die ihrerseits eine Affäre mit Carlo hatte. Eine Intrige von Lauras hochrangigem Polizisten-Vater, naheliegende Eifersucht und eine Radikalisierung der Widerstandsformen sind der Operntreibstoff des ersten Teils. 

Das gilt in verwandelter Form auch bei der Wiederbegegnung der Freunde, vierzig Jahre später, am zweiten, pausenlosen und kürzeren Abend „Nostalgia“. Da ist die Barrikade vom Ende des ersten Teils zum Kunstobjekt in eine Nobelgalerie geworden, in der sich die Überlebenden und gealterten Akteure von einst bei der Vernissage wiederbegegnen, um nostalgisch ihren Erinnerung nachzuhängen. Zum immer noch attraktiven Carlo, dem mittlerweile zurückgezogen lebenden Jazzpianisten Lorenzo und dem Ex-Politiker Giuseppe kommen die extrovertiert geschäftige Galeristin Donatella und, mit der Studentin Virginia, die Tochter der inzwischen verstorbenen Christina hinzu. Virginia ist auf der Suche nach ihrem Vater und will aus der Hinterlassenschaft ihrer Mutter einen Dokumentarfilm über die 68er-Zeit machen.

Aus den Vollen des frühen Verdi geschöpft

Auch diese Fortsetzung erweist sich als ziemlich opernpraktische Vorlage für die Kombination der Musik aus 16 frühen Verdi-Opern zwischen „Oberto“ (1839) und „Stiffelio“ (1850). Aus dieser Periode liefern „Ernani“ (1844), „I due Foscari“ (1844), „Giovanna d’Arco“ (1845) und „I Masnadieri“ (1847) ihre verblüffend passenden musikalischen Beiträge. Aber auch musikalische Schmuckstücke aus sehr selten zu hörenden Werken wie „Un giorno di regno“ (1840), „I Lombardi“ (1843) oder „Alzira“ (1846) sind zu entdecken. Natürlich sind die auf Anhieb erkennbaren Beiträge aus den beiden populären Frühwerken „Nabucco“ (1842) und „Macbeth“ (1847) dramatisch passend eingebaute Höhepunkte. Wenn das „Va, pensiero“ des Gefangenenchores aus „Nabucco“ zum Finale mit der zerstörten und brennenden Barrikadeninstallation anhebt, ist das besonders ergreifend und feuert den Schlussbeifall zusätzlich an. Das gilt aber auch für die adaptierte Wahnsinnsszene der Lady Macbeth oder für die Bankettszene, durch die natürlich nicht der Geist von Banco, sondern der von Laura geistert. 

Der polnische Regisseur Krystian Lada hat für sein Skript tief gegraben und viel gefunden. Er zeichnet auch für Regie, Bühne und die Videos verantwortlich. Gelungen ist ein stimmiges Gesamtkunstwerk. Hier passen die verbindenden gesprochenen Textpassagen zu den eigens gedrehten und den dokumentarischen Videos ebenso wie die Umsetzung der sich vokal aufschwingenden Emotionen in eine verblüffend passgenau, scheinbar impovisierende Choreografie (Michiel Vandevelde) für die neunköpfige Straßentänzertruppe! 

Bild
Eine blonde Frau mit kurzen Haaren sitzt auf einer weißen Bank vor einer mit einer Plane überspannten Barrikade aus allerlei zweckentfremdeten Material des öffentlichen Raumes und verblichenen Flaggen.

40 Jahre später ist in „Nostalgia“ aus Revolution ist Kunst geworden. Virginia (Gabriela Legun) ist auf der Suche nach ihrem Vater und will aus der Hinterlassenschaft ihrer Mutter einen Dokumentarfilm über die 68er-Zeit machen. Foto: Karl Forster

Text

Verdis Büste findet sich auch auf der Barrikade. Sie gehört dazu und ist unzerstörbar, wie seine Musik. Dass die Italiener das „Va! pensiero“ auch heute noch mitsingen können und dieser Chor den Rang einer heimlichen Nationalhymne hat, spricht für sich. Einen politisch so wachen Geist und empathischen Menschen wie Verdi darf man getrost, so wie Lada und der Musikalische Leiter dieser Produktion Carlo Goldstein es gemacht haben, als musikalischen Kronzeugen für ein Revolutionsstück bemühen. Vor allem, weil sie können, was sie dürfen.

Ist es Zeit für ein Wagner-Pasticcio?

Man ertappt sich für einen Moment bei der Überlegung, ob sich das mit Wagner auch machen ließe und kommt zu dem Ergebnis: eher nicht. Inhaltlich, weil ihn sein Lebenslauf dezidiert von der einen, aufbegehrenden Seite der Barrikade auf die andere, die staatstragende trug. Aber auch formal, weil sich seine Werke so hermetisch geschlossen sich selbst genügen. Ausgenommen der Ring, der ja schon Gegenstand einer pasticcioähnlichen Bearbeitung (am konsequentesten bei Tatjana Gürbaca in Wien) war. Das spricht nicht gegen den Künstler Wagner. Die Flexibilität mit der man Bausteine zumindest aus den verwendeten frühen Opern auch neu verbauen kann, aber auch nicht nur für Verdi. Auch wären seine späteren Meisterwerke dafür nicht geeignet, weil zu bekannt. Hier würden verwendete Teile ihren eigentlichen Kontext immer zu deutlich mitliefern. Goldstein hat sich daher zum Glück bewusst auf die Frühwerke konzentriert: Was er da mit dem La Monnaie Symphony Orchestra liefert, ist durchweg packend und trägt auch die Protagonisten.

Mit hervorragenden Stimmen auf zu neuen Verdi-Ufern!

Als Giuseppe treten im ersten Teil Vittorio Prato und als Lorenzo der gutmütig sonore Justin Hopkins an. Nino Machaidze zieht für ihre zentrale Rolle der Laura alle dramatischen Register. Aus dem Rivoluzione-Ensemble ragen der italienische Tenor Enea Scala als charismatischer Carlo mit unerschütterlich strahlenden Schmettertönen und die atemberaubende Gabriela Legun in der kleinen Partie der Christina heraus. Sie ist zum Glück in „Nostalgia“ noch einmal in der Rolle von Christinas Tochter Virginia zu erleben. Da gibt Scott Hendricks den älteren Carlo und Giovanni Battista Parodi den Giuseppe. Lorenzo ist hier (seltsamerweise) nur eine stumme Rolle. Mit ihrer traumhaften Höhensicherheit, Bühnenpräsenz und augenzwinkernder Selbstironie im Spiel hinterlässt die australische Sopranistin Hellen Dix als Galeristin einen bleibenden Eindruck.

Im selbst in den Folgevorstellungen ausverkauften Haus, ließ sich ein gut gemischtes Brüssler Publikum willig auf diese Reise zu neuen Verdi-Ufern ein, feierte den Entdeckermut seines Opernhauses und die mitreißende Leistung aller Beteiligten.  

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!