Es hätte so schön sein können für das Paar auf der Schiffspassage nach Südamerika. Mit Sonne satt, gutem Essen, Turtelei und Tanz. Wäre da nicht diese Frau an Deck, die einen Schatten auf den glücklichen Aufbruch wirft. Denn der süße Schein trügt. Walters „Lieschen“ war einst „die Franz“, gefürchtet-verhasste Aufseherin im Lager von Auschwitz. Verdrängt hat Lisa, was sie als ihre Pflicht gesehen hat, unter den inneren Teppich gekehrt ihre Schuld am Tod von so vielen, zu denen auch Marta gehört, die sie nun wiederzuerkennen glaubt. Die Anwesenheit der seltsam vertrauten Fremden wirft Hitlers Helferin aus der Bahn. Sie hat sich ihrer Geschichte zu stellen. Und so muss das Publikum im Krefelder Theater bei der Premiere von Mieczysław Weinbergs (1919-1996) Oper „Die Passagierin“ auch dabei zuschauen, wie die NS-Vernichtungsmaschinerie hoffnungsvolles Leben zerstört – willkürlich, menschenverachtend, infam. Wer von den Überlebenden könnte das jemals vergessen? Wie den Täterinnen und Tätern vergeben? Und was ist mit der kollektiven Erinnerung, ist sie Verantwortung, ist sie Last?

Marta klagt – und hofft, mit dem Mut der Verzweiflung. Als „Passagierin“ beeindruckt die Sopranistin Sofia Poulopoulou nachhaltig. Eine große Partie! Foto: Theater Krefeld und Mönchengladbach/Matthias Stutte
Die Last der Verantwortung – „Die Passagierin“ stellt im Theater Krefeld wichtige Fragen
Das Stück in der Inszenierung der theatererfahrenen israelischen Regisseurin Dedi Baron (Premiere im „Schwesterhaus“ in Mönchengladbach ist dann zu Beginn der Spielzeit 2025/26) wirft wichtige, wirft richtige Fragen auf. Es bleibt nicht stehen im Gestern und auch nicht im Heute, sondern weist im Spiegel des schrecklichen Vergangenen in eine Zukunft, in der die Chance genutzt werden könnte: zu einem versöhnlichen, friedlichen Miteinander, zu gegenseitiger Achtung und Wertschätzung, zu Wegen von Mensch zu Mensch. Denn Marta vergisst nicht, niemals nicht. Aber sie hat die Kraft für den entscheidenden Schritt: auf die andere hin. Was danach geschieht, bleibt offen. Denn die Geschichte der zwei Frauen endet in einem Moment, in dem alles möglich ist, auch das Unmögliche.
„Die Passagierin“ zeichnet beide Protagonistinnen in klaren Konturen. Hier die verhärtete Deutsche, deren (Mit-)Gefühl unter Befehlsgehorsam und Führerglaube verschüttgegangen ist, dort die unerschrockene Polin, deren Körper all die Emotionen kaum halten kann, die sich ihrer bemächtigen, den Freiheitsdrang, die Sehnsucht, das Hoffen, die Fürsorge. Eine Heilige fast, ihr Überleben ein Wunder. Lisa und Marta kommen kaum voneinander los, in der Distanz und in der Nähe ist immer zu spüren, dass diese beiden etwas verbindet. Hochspannend, dass Macht und Ohnmacht eben anders verteilt sind als vermutet: Bei diesem Kräftemessen unterliegt Lisa – immer! Es mangelt der SS-Schergin an der widerständigen Stärke, die Marta davor schützt, gebrochen zu werden
Eva Maria Günschmann gibt die Lisa als eine äußerlich kerzengerade, aber letztlich tief verunsicherte, verängstigte Frau – sie meistert stimmlich wie darstellerisch das Ambivalente dieser Persönlichkeit, die nur wenig Mitleid verdient. Als ihrem Gatten schwant, dass seine Frau einen Ballast im Reisegepäck hat, der auch ihn in die Tiefe ziehen könnte, weicht die wiedererwachte Verliebtheit erst dem Entsetzen („Ungeheuerlich!“), ist er doch BRD-Diplomat auf Auslandsmission, dann dem Verdrängen („Es war halt Krieg ...“). Jan Kristof Schliep verfluchte als Walter stimmgewaltig das Grauen, symbolisierte einen schwachen Menschen, handlungsunfähig, das eigene Fähnchen im Wind.
„Können wir weiterleben, ohne hinzusehen?“ Die Frage, die als Schrift an der Wand erscheint, würde Walter wohl bejahen. Die junge Israelin, die aus dem Hier und Jetzt auf das Vergangene schaut und die Bühne immer wieder durchstreift, nicht. Sie schaut hin, spürt nach, fühlt den Schmerz ihrer Vorfahren auch physisch, wirkt ratlos, aber betroffen. Liron Kichler, die Choreographin dieser Opernproduktion, übernimmt die Rolle der Zeitgenossin, die an der Last des Gewesenen trägt, die fragt und fragt, anfragt und befragt.
Antworten findet sie bei Marta und ihrem Verlobten Janusz. Es hätte so schön sein können für dieses junge polnische Paar, dessen Liebe so zart, so rein, so wahrhaftig ist. Den beiden gelingt es, ein Stück vom Himmel in der Hölle zu bewahren. Trotz allem, wegen allem. Es geht zu Herzen, als Marta (herausragend: Sopranistin Sofia Poulopoulou) ihre große ariose Klage anstimmt, ein Lied, das Todesgräben zu überwinden vermag; es geht unter die Haut, als sie das Grauen umreißt, mit einer Tiefe, mit einer Wucht, überbordend; es geht an die Substanz, wie sie mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Wände ihrer Gefangenschaft anrennt – was für ein Spurt auf engstem Raum!
Und dann ist da Janusz (Rafael Bruck), der lange im Verborgenen agiert, ein Botschafter der Hoffnung, ein Mensch, der zeigt, dass es auch in der Repression die Option zu widerstehen gibt. Mit aller Konsequenz, denn er wird, als er, entblößt und geschunden, statt des Walzers die Bach’sche Chaconne auf seiner Geige spielt, brutal ermordet. Gehorsam, würde Janusz sagen, ist eine Entscheidung, und zwar zu allen Zeiten.

Verlassen Deutschland für ein paar Jahre, doch ihrer Vergangenheit entkommen sie nicht: Lisa (Eva Maria Günschmann) und Walter (Jan Kristof Schliep) ahnen nicht, dass ihre Schiffspassage alles verändert. Foto: Theater Krefeld und Mönchengladbach/Matthias Stutte
In Weinbergs Oper verschwimmen die Erzählebenen – szenisch, musikalisch und in Bühne und Kostüm (Kirsten Dephoff). Der Ozeandampfer wird zum KZ, die Schiffscrew zur Lagermannschaft, und die Reisenden sind bald tumb gebräunte Masse, zur Maske erstarrt die Mienen, verpuppte Figuren, seelenlos verwandelt. Die Menschlichkeit ist ihnen abhandengekommen. Ein Gegensatz zu den zärtlichen Porträts der in Auschwitz gefangenen jungen Frauen. Ihnen gibt das Stück Gesicht (in filmischen Nahaufnahmen) und Stimme (in den Muttersprachen!). An ihrem Beispiel schildert die Inszenierung das Leid, den Hunger, die Qual in diesem Raum, aus dem es kein Entkommen gibt. Da wird eine einzelne Rose zum Sinnbild alles Geliebten, ein Eiswürfel zum Symbol auch für den Lebensdurst; und ein paar zurückgebliebene Kinderschuhe lassen ahnen, dass es Schonung selbst für die Kleinsten nicht gab.
All das erfährt durch die Musik eine hochdramatische Schärfung. Vom Orchestergraben aus spiegeln sich Gedankenwelten und alptraumhafte Szenen. Angejazzte Passagen, musikalische Zitate, der kurze Moment einer bald verzerrten Walzerseligkeit schieben sich in den zumeist atonalen Grundklang. Hellwach und überaus variabel agieren die Niederrheinischen Sinfoniker unter der aufmerksamen Leitung von GMD Mihkel Kütson. Von beeindruckender Intensität ist auch der kommentierende Chor, dessen Choral über die „schwarze Todeswand“ und den ewig bleibenden Schmerz im Ohr bleibt.
„Der Glockenton verhallt ...“ – auf der Bühne erlischt das Licht. Das letzte Wort aber hat Marta. Sie nennt noch einmal die Namen von Katja, Vlasta, Hannah und den anderen. Sie hält die Erinnerung wach, schlägt zeichenhaft eine Brücke vom Gestern in die Gegenwart, in die Zukunft.
„Die Passagierin“ ist ein großes Stück wider das Vergessen. In Krefeld verweist es auf Formen des Gedenkens: mit Stolpersteinen, Kerzen, Blumen, dem Erzählen von Geschichten, dem Benennen von Schuld, der Option einer Versöhnung. Wie gut, dass die 1968 geschriebene Oper des polnisch-jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg seit ihrer szenischen Uraufführung 2010 bei den Bregenzer Festspielen wieder und wieder gespielt wird. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2022 habe die Autorin des dem Werk zugrundeliegenden autobiographischen Romans von 1962 keine Premiere verpasst, schreibt Ulrike Aistleitner (Dramaturgie, mit Andreas Wendholz) im Programmheft des Theaters Krefeld und Mönchengladbach. Inzwischen bleibt Zofia Posmysz’ Platz leer, ihre Stimme aber wird gehört.
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