Köln im Dezember. Künstliche Gewässer, schöne neue Hochhauswelt aus Stahl, Glas, Beton. Medien und Moderne buchstabieren sich ja schon lange auf nichts anderes mehr. In Köln hört das Environment auf den redenden Namen Mediapark, seit kurzem auch Domizil der Netzwerk-Initiative ON – Neue Musik Köln e.V. sowie des NRW-Landes- ensembles musikFabrik. Ein Ortsbesuch, der mehr als eine Überraschung bereithält.
Wie viele Quadratmeter braucht man für die Neue-Musik-Vermittlung? Antwort: Gerade soviel, dass zwei Computer, zwei Schreibtische, zwei Leute reinpassen. Fertig. Wer’s nicht glaubt, versuche einmal, das Büro der Kölner Netzwerk-Initiative ON zu betreten. Da muss der dritte Stuhl erst besorgt werden. Und doch: Im Mediapark 7, gleich hinter der Pförtnerloge, wird gleichwohl der Schalter umgelegt, um dem Neue-Musik-Leben der Domstadt ganz neue Präsentations- und Vermittlungsformen angedeihen zu lassen. Schönste Wirkung des von der Bundeskulturstiftung initiierten Netzwerks Neue Musik, das die Kölner Koordinierungs-Initiative in ihre Projektliste aufgenommen hat.
Der Schalter ist umgelegt
„Das Ding ist ON. Jedes Gerät hat einen ON- und OFF-Schalter. Und das war auch noch mal die Idee, im Namen einen Impuls zu geben, zu sagen: Jawoll, hier wird jetzt etwas Neues auf den Weg gebracht, wird neue Energie freigesetzt.“ Till Kniola. Zusammen mit einem Mitarbeiter sitzt der zwischen Kunst und Kunstvermittlung balancierende Medien-Künstler und Kulturmanager im vermutlich kleinsten Büro, das die Domstadt zu vergeben hat. Doch immerhin, es reicht, um Großes zu bewegen. „Köln hat natürlich nicht das Problem, dass es hier nichts gibt, sondern eher, dass es vereinzelt ist und vielleicht gibt es manchmal auch Konkurrenzverhältnisse.“ Eine bewusst vorsichtig formulierte Diagnose, deren passende Therapie für Kniola schon immer auf der Hand lag. „Da war schon der Gedanke, dass die Aktiven vor Ort, sei es die Philharmonie, seien es freie Ensembles oder musikpädagogische Akteure, verabreden, sich gegenseitig über ihre Aktivitäten zu informieren.“
Doch dass es ausgerechnet in Köln gelungen ist, fünfunddreißig Personen, Institutionen, Organisationen unter einem Dach zusammenzuführen, in eine Vereinsstruktur einzubinden, gilt hier allseits als „Wunder“. Komponisten, Ensembles, Veranstalter, musikpädagogische Initiativen, gleichsam über Nacht vernetzt – via Magazin, via Homepage und Newsletter. Kniola: „Das haben wir mit ON, mit unserem Netzwerk, glaube ich, auf einen sehr guten Weg gebracht. Da sieht jeder, der sich bei ON beteiligt, den Mehrwert für sich und ist gern bereit, sich und seine Arbeit ins Netzwerk einzubringen.“
Auch Bojan Budisavljevic, Geschäftsführer des Netzwerks Neue Musik, bestätigt das Kölner Musikvermittlungs-Wunder. „Das ist einmalig, das haben wenige für möglich gehalten!“ Dabei muss doch nur, wie sich gezeigt hat, jemand kommen, der den Schalter umlegt.
„Soll ich mal kitzeln?“
Gleich hinter Kniolas Schaltzentrale beginnt das weitläufige, tief ins Unterirdische führende Reich der musikFabrik. Den Weg hierhin aus der beschaulichen Orangerie von Schloss Benrath in Düsseldorf, der NRW-Landeshauptstadt, über eine Zwischenstation in einem Kölner Außenbezirk, versteht das NRW-Landesensemble mehr oder weniger als Weg zu sich selbst. Hier, in Köln, Mediapark, spielt die Musik! Gründungsmitglied Thomas Oesterdiekhoff, Geschäftsführer des Ensembles, träumt von einem dortselbst zu etablierenden neuen Neue-Musik-Zentrum. Vielleicht, so die Hoffnung, lassen sich die Publikumsströme ja ein wenig umlenken.
Einstweilen aber lockt die Massen doch noch vor allem ein vis-a-vis errichtetes Multiplexkino. Zwar lässt sich so was naturgemäß nicht toppen, aber gefeiert wird jetzt auch gegenüber, im Hochhaus Nummer 7. „Familientag der musikFabrik“! Für Stunden erfüllen heisere Lautsprecherdurchsagen den Luftraum über Treppen, Vorräumen, Gängen. Halbwüchsige toben durch die Escherwelten. Es geht zu wie auf dem Kindergeburtstag. Mitmachaktionen, Workshop-Demonstrationen, ein Ensemble „Maul&Trommel“ gibt Laute von sich und – positioniert vor einer Wandtapete mit lustigen Kritzeleien – spielt die musikFabrik eine „unendliche Partitur“. „Nikolaus komm in unser Haus. Kultur für alle!“ lautet das Motto.
Natürlich ist auch an die Menschheit jenseits der ersten Pubertätsgrenze gedacht. Oesterdiekhoff lächelt vielsagend. Gleich ist es soweit. Tatsächlich, kurz vor der Aufführung von Ligetis Zweitem Streichquartett als finalem Höhepunkt und Abschluss des musikFabrik-Festivals „Schlüsselwerke der Neuen Musik“, betreten vier Experten, begleitet von einem Rundfunk-Moderator das Podium: Große Festival-Roundtable. Gespannte Erwartung im Publikum. Kinder, was wird das geben?
Nach, wie erwartet, zähem Beginnen, glätten sich die Stirnfalten. Fast breitet sich so etwas wie Heiterkeit aus, trotz oder gerade weil die Debatte zum kniffligen Schlüsselwerk-Thema auf eine so wohl nicht geplante schiefe Ebene abgleitet. Gerade hat Rainer Nonnenmann noch einmal die Berechtigung des Unternehmens unterstrichen, hat den bekannten Missstand in Sachen Neue-Musik-Repertoire beklagt und eine Lanze für die Idee aufzustellender Schlüsselwerke gebrochen, da meldet sich sein Nachbar zur Rechten: „Soll ich mal kitzeln?“ Der Moderator nickt. Grünes Licht für Reinhard Oehlschlaegel.
Und schon hat – ritsch-ratsch – der an den Startseilen hängende Heißluftballon seine ersten Kratzer weg. Es bleiben nicht die einzigen an diesem Abend. Auch eine gestandene Kölner Komponistin ist ganz und gar nicht in Feierlaune. „Das ist retrospektiv, das Ding!“, ruft Carola Bauckolt in die Runde der Mitdiskutanten. Statt durchgesetzter „Schlüsselwerke“ aus Meisterhand, gehöre die aktuelle Produktion auf die Bühne. Und überhaupt lasse sich nun einmal nicht festlegen, was im Hörer den erhofften Schlüsselreiz bewirke und was nicht. Oehlschlaegel nickt und schiebt entschlossen noch ein Scheit nach. Diagnostiziert wird ein „Marketing“-Kunstgriff, Werbung nach Masche der Klassik-Vermarkter, die „Meisterwerke“ anpreisen und verkaufen; mit der Folge, dass sich ein Drittes zwischen Hörer und Werk schiebt, was da nicht hingehört. Der Sache nach, ist dies ein adornistisches Argument. „Verdinglichung“ hätte der Altmeister dazu gesagt. Man hört nicht mehr auf ein Musikgeschehen, sondern hört ein „Schlüsselwerk“. Ritsch-ratsch, die Luft entweicht.
AG Kanon
Solches wird nun auch auf dem Podium gespürt. Kein leichter Stand für die Initiatoren, die Intention ins rechte Licht zu rücken. Gerade weil man etwas für die Verbreitung der Werke tun möchte, habe man diejenigen, die mit Neuer Musik befasst sind, um ihre Auflistungen gebeten. So weit, so gut.
Nur, dass irgendwann im Ringen ums neue Werk und dessen Anerkennung der Rubikon überschritten worden sein muss, spätestens dann, als sich eine „dreiköpfige Arbeitsgruppe“ anschickte, die „ausufernden“ Listen zu einem „Kanon“ zu „verdichten“. Thomas Oesterdiekhoff, neben Louwrens Langevoort (Kölner Philharmonie) und Hermann-Christoph Müller (Stadt Köln/Musikreferat) ausgewiesenermaßen Teil besagter Kanon-AG, muss als Festival-Veranstalter irgendwie geahnt haben, dass der angesetzte Diskurs zum Thema keineswegs nur eitel Sonnenschein zeitigen würde. Deshalb wohl auch das Fragezeichen in der Ankündigung: „Schlüsselwerke?“
Andererseits – ganz und gar unbekümmert kursiert parallel, schwarz auf weiß, die von der AG verfertigte und verantwortete finale Liste samt staatstragendem Untertitel, versehen nicht zuletzt mit dem Logo der Netzwerk-Initiative ON. Sechs Schreibmaschinenseiten, separiert nach Solo, Ensemble/Orchester, Kammermusik, Oper, Elektronik, Chor: „ON – Schlüsselwerksliste 2008. Kölner Kanon der Neuen Musik“. Wer den Sesam öffnet, steht unvermutet wie Friedrichs Wanderer über dem Klassik-Nebelmeer. Schlüsselwerke der Neuen Musik (von A wie Antheil, über H wie Hindemith, K wie Kagel, Krenek, König, Kodály bis Z wie Zimmermann); 150 Werke, eingetreten in den berühmt-berüchtigten Status der Wirkungslosigkeit von Klassikern, wobei in Kölner Kanonangelegenheiten überdies gilt: Schlüsselwerke – nichts für Frauen, nichts für Ossis, was dann irgendwie auch klar ist. Wer Listen schreibt, teilt damit notwendig immer mit, wer nicht draufsteht.
Doch so eng, so streng, wird versichert, sollte man „das Ganze“ nicht sehen. Mehr als „Anregung“. Aha! Nun, das ist das Schöne an Köln: Dieselben, die den Lorbeer verteilen, sind die Ersten, die Entwarnung geben und schon einmal die Witze in Umlauf setzen. Nicht nur in Fasteloovends-Tagen wie jetzt ist man am Rhein gern mit Masken unterwegs. Eigentlich, jeföhlsmäßich jesinn, ist ja immer Karneval – in Köln.