Der Untergang des sagenhaften Aztekenkönigs Montezuma und die Eroberung von Mexiko durch die Spanier gehört zu den beliebten Opernstoffen. Von Carl Heinrich Graun (zu einem Libretto von Friedrich II.) über Vivaldi bis hin zu unserem Zeitgenossen Wolfgang Rihm. Und eben auch bei dem 1807 mit seiner „Vestalin“ als Komponist berühmt gewordenen Italiener Gaspare Spontini (1774-1851).
Die im Jahre 1809 noch auf Anregung Napoleon Bonapartes entstandene und uraufgeführte Mexiko-Oper „Fernand Cortez ou la Conquête de Mexique“ („Hernán Cortés oder die Eroberung von Mexiko“) kam 1824, im Jahr der Verbannung ihres imperialen Auftraggebers, nach mehrfacher Überarbeitung auch in Berlin auf die Bühne. Also dort, wo Spontini von 1821-1841 als preußischer Generalmusikdirektor das Opernleben lenkte. Schon der Beginn der Aufführungsgeschichte ist also mit einer historischen Pointe versehen.
Dass in diesem Dreiakter am Ende der spanische Eroberer eine hochgestellte Tochter des Landes heiratet, der in seinem Götterglauben zwischen Hingabe und Todessehnsucht faszinierende Montezuma seine märchenhafte Aura behält, ideologische Hardliner jeden Versöhnungsansatz in der erdrückenden Umarmung der Kulturen ersticken und das Finale von Großmut nur so trieft – all das ist auch starker Propaganda-Tobak. Nicht nur im heutigen Mexiko dürfte man die Geschichte anders sehen. Hier wird die Geschichte des Kolonialismus mit einer orchestralen Kavallerie im Auftrage und Interesse Napoleons vor allem in staatstragenden Operntableaus a la francaise zelebriert.
Das ist die per Erbschein überkommene Herausforderung für jede szenische Ausgrabungs- und Neubelebungsanstrengung, von denen es so viele nicht gibt. Ob da der goldglänzende Einheitsbühnenkasten von Ralph Zeger und die knappe, von Miriam Grimm (Kostüme) beigesteuerte Uniformierung der Eroberer (der Anführer historisch, seine missmutigen Truppen eher verlottert) und die Kopfschmuckinsignien (für die Protagonisten bei den Azteken) wirklich hinreichen, um den fundamentalen und nachhaltig wirkenden weltgeschichtlichen Grundkonflikt zu markieren, ist in Eva-Maria Höckmayrs Dortmunder Inszenierung eine offne Frage. Eine weitere (vom ständig über den Planungen hängenden Corona-Damoklesschwert abgesehen) ist in den letzten Wochen, seit dem 24. Februar, dazu gekommen.
Schon auf einen ersten Blick ist „Fernand Cortez oder Die Eroberung von Mexiko“ ein Stück zur Stunde. Und das in einer so beklemmenden Weise, wie es niemand wirklich, aber jetzt angeblich viele schon immer gewusst haben: stehen hier doch fremde Eroberer vor den Toren einer bedrängten Hauptstadt. Beide Seiten wähnen ihre Götter und eine historische Mission auf ihrer Seite. Im Überlebenskampf auf Leben und Tod reißen sich bei Höckmayr die Bedrängten im wahrsten Wortsinn ihr Herz aus der Brust und tragen es in ihren Händen.
Die anderen tragen den Wahn einer historischen Bekehrungsmission mit Kreuz und Schwert vor sich her. Beide rasen mit eskalierender Rhetorik so auf die Katastrophe zu, dass alle Stimmen, die Vernunft und Versöhnung wollen, unter die Räder kommen. Dass am Ende der siegreiche Eroberer den großmütig Verzeihenden gibt, wirkt wie eine Propagandaerfindung, die man heute am ehesten dem Kreml zutrauen würde. Aber auch anderen interventionsfreudigen Machtzentralen.
Um dieses aztekische Mexiko und die Eroberer-Speerspitze der einstigen Weltmacht Spanien vom 16. Jahrhundert in die Gegenwart zu projizieren und geographisch deutlicher weiter östlich zu verorten, bedarf es keinerlei Illuminationen in Blau-Gelb. Hier wurde schon vor zweihundert Jahren auf der Opernbühne ein exemplarischer Rückfall in die Barbarei verhandelt, wie er uns heute den Atem verschlägt. Wäre man nicht schon vor dem Coronaausbruch, sondern nach dem Überfall auf die Ukraine auf die Idee gekommen, diese Spontini-Oper auszugraben, wäre das Konzept sicher anders ausgefallen.
So bleibt es ästhetisch bei einer exemplarischen Abstraktion mit ein paar markanten historischen Insignien. Das Kopfkino freilich behindert die Inszenierung nicht. Wenn Höckmayr nach der Pause bei der Formation, die zum Sturm auf die Azteken-Hauptstadt ansetzt, die Eroberer aller Zeiten und Couleur auf dem Hubpodium aufstellt, dann kann man sich die russischen Uniformen dazu denken. Allerdings ist eben auch richtig, dass es eines gewissen Abstands bedarf, um Großkonflikte der Gegenwart bühnentauglich zu verdichten.
Der oft fliegende Wechsel zwischen den Chorparteien und die eskalierenden, jähen Wendungen bei diversen Geiselnahmen, Versöhnungsversuchen und Rückfällen in die pure Gewalt verstehen sich in den tableaulastigen Bühnenarrangements jedenfalls nicht von selbst. Mitunter verschlagen die jähen Wendungen der Handlung der Regie gleichsam selbst demonstrativ die Sprache und lassen die Bewegungen zu Tableau vivants erstarren.
Dass die zentrale Rolle, die die einzige Frau im Stück in ihrer vermittelnden Stellung zwischen den Parteien hat, durch deren Verdopplung gleichsam ihren Ausstieg aus dem behaupteten Happyend (und Abgang durch den Zuschauerraum) ermöglicht, ist ein überzeugender Versuch, der Selbstverklärung des Eroberers etwas entgegenzusetzen.
Musikalisch bewegt sich Spontini mit seiner Cortez-Oper zwischen Tragédie-lyrique und Grand opéra. Die Dortmunder Philharmoniker unter Leitung von Christoph JK Müller lassen Pathos und Dramatik aus dem Graben geradezu in den Saal fluten und binden Chor und Protagonisten wohldosiert ein. Spontinis Melange aus martialischem Vorwärts-oder-Tod-Pathos und geschmeidiger französischer Eloquenz und die Schlachten der Chöre auf hohem emotionalen Erregungsniveau, lohnen allemal. Dazu kommt ein beeindruckendes Ensemble. Mit ihrer schlichtenden Leidenschaft glänzt Melody Louledjian als mexikanische Feldherrenschwester und Cortez-Geliebte Amazily. Mirko Roschkowski ist ein so konditionsstarker wie geschmeidiger Cortez. Mandla Mndebele hat als Montezuma mit seinem partiellen Eintreten für die Vernunft gegen den herausragend machtvoll auftrumpfenden Denis Velev als bornierter Azteken-Oberpriester kaum eine Chance. In dem Hinundher der Geiselnahmen profilieren Sungho Kim den Cortez Bruder Alvar und James Lee den Bruder Amaziliys Télasco mit vokaler Leidenschaft und szenischer Präsenz. Auch der Chor ist in der Einstudierung von Fabio Manici dem kämpferischen Wogen der Leidenschaften vokal und darstellerisch voll gewachsen!
So triumphiert der musikalische Glanz der Produktion über eine eher verzagt hinterfragte Geschichte mit viel rampenorientierten, nicht allzu spannend eskalierenden wechselseitigen Geiselnahmen und einem lieto fine jenseits der Logik eines Kampfes auf Leben und Tod.
Zwar dürfte auch diese Inszenierung (wie schon jene in Erfurt 2006) dieser Oper kaum zu einem erfolgreichen Eroberungsfeldzug ins Repertoire verhelfen. Doch der Besuch lohnt sich allemal. Auch, weil die Oper Dortmund diese Ausgrabung in ihrem „Wagner-Kosmos“ in einen dramaturgisch ambitionierten Zusammenhang mit dem anstehenden Ring-Projekt gestellt hat.