Kaum ein Werk mit der Vertonung der christlichen Weihnachtsbotschaft ist so sehr wie das Weihnachtsoratorium aus den Jahren 1734/35 heute in beiden Sphären daheim: in der christlichen und der weltlichen. So gesehen hat es durchaus eine innere Logik, Johann Sebastian Bachs terminbezogenes Meisterwerk auch auf die Bühne eines Opernhauses zu holen, so wie es jetzt Jochen Biganzoli am Staatstheater Kassel.
Dass im Coronawinter2/Welle4, Anfang Dezember 2021, überhaupt diese Premiere mit Publikum stattfinden durfte, darf man getrost mit zu den Weihnachtswundern rechnen. Denn so sicher ist das in Zeiten, in denen sich die Politiker mit Vorsichtsaktivitäten zu überbieten trachten, nicht. Es war eine Premiere mit dem gegenwärtigen Maximum dessen, was die Gesundheitsbehörden aufbieten können: 2G, dazu ein aktueller Test, Abstände zwischen den Zuschauern und FFP2 Maske. Eigentlich müsste das ausreichen, um die Gefahren, die auf der Straße lauern, gleich noch mit zu verscheuchen.
Wie dem auch sei – man ist dankbar für jede Tür, die noch geöffnet ist, so dass man in den hygienischen Hochsicherheitsbereich Theater hineinschlüpfen kann, um eine Oper, ein Schauspiel oder eben ein „partizipatives Musiktheater+ mit Musik von Johann Sebastian Bach“, wie der Untertitel heißt, zu erleben. Die Raumbühne „Pandemonium“, die Sebastian Hannak für den Neustart in Kassel unter dem Intendanten Florian Lutz gebaut hat (über „Wozzeck“ und „Tosca“ hat die NMZ berichtet), steht noch und prägt das Raumgefühl. Auch wenn sie im Programm nicht erwähnt ist. Wolf Gutjahr hat sie für Biganzolis Inszenierung weihnachtlich angepasst.
Das Orchester ist wieder auf der Bühne platziert – davor gibt es ein Spielfläche, die hauptsächlich vom von Marco Zeiser Celesti bestens einstudierten und spielfreudig agierenden Profichor des Hauses und einem von Andreas Cessak und Rebecca Göb nicht minder überzeugend vorbereiteten Chor der Bürger und Bürgerinnen (in Kassel nennt man das gendereifrig natürlich Bürger:innenchor) genutzt wird. An jeder Seite gibt es eine Minibühne. Links, das Hotelzimmer, hat Ulrike Schneider (die Sängerin der Altpartie) bezogen. Rechts ist Sopranistin Lin Lin Fan allein in der Küche mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt – Plätzchenbacken inklusive. Man ahnt schon, dass sich beide vormachen, dass die Feiertage ein Fest der Familie und der Begegnung werden könnten. Die Dame im Hotelzimmer (vielleicht ein Star auf Tournee) bekommt Besuch von einem jungen Mann. Spätestens wenn der smarte Boy nackt unter die (echte) Dusche geht, sich danach wieder anzieht und ein paar Scheine überreicht bekommt, ist klar, dass es ein Callboy war. Und sie ist wieder allein. Ihr Pendant auf der gegenüberliegenden Seite bleibt gleich allein. Man kann das, was da zu jeweils passenden Nummern des Weihnachtsoratoriums geschieht, zwar durchaus als Kommentar zum vorigen und dem bevorstehenden Weihnachtsfest mit seinen coronabedingt abgerüsteten Familienfesten lesen. Aber es ist allgemeiner, eher eine Metapher der Vereinsamung inmitten einer Welt von Konsumklischees, die sich die Rituale dieses eigentlich christlichen Festes der Besinnung schon lange einverleibt haben.
Dazu gehört der ebenfalls weihnachtlich aufgehübschte Fitnessklub auf der Galerie hinter dem Orchester, in den sich auch der Evangelist (Andrés Filipe Agudelo) einmal verirrt und trotz Beistand an den Hanteln scheitert. Seine moderierende Partie hat er natürlich virtuos drauf. Ebenso wie Sam Taskinen die Basspartie. Die finnische Bassbaritonistin hat zudem (wie schon in der „Tosca“ als Angelotti) Raum, um mit sich selbst als Hauptperson ein Plädoyer für Toleranz gegenüber dem Changieren von Geschlechter-Identitäten zu performen. Beim ersten Auftritt im Anzug, am Ende geschminkt und im bodenlangen glitzernden Abendkleid. Dazwischen mit ein paar plakativen Bekenntnissen. Von „Meine Stimme ist eine Frauenstimme“ und „Wir sind Menschen“ über „Es gibt keine Wahl“ bis zu „A trans Woman does NOT exist to be YOUR FETISH“.
Aber nicht nur dieser eine Bogen von der Weihnachtsbotschaft ins Individuelle wird geschlagen, die Bilder auf den Leinwänden schlagen auch den zum beklagenswerten Zustand der Schauplätze der Weihnachtsgeschichte in die heutige, ziemlich kriegerische Gemengelage des Nahen Ostens.
Musikalisch eindrucksvoll ist die in die Musik Bachs eingebaute Version der Weihnachtsgeschichte, die der in Kassel lebende syrisch-christliche Kanunspieler und Sänger Bassem Alkhouri als erhellenden Kontrast einfließen lässt.
Partizipativ an dem Abend ist ein gemeinsames Singen des Chorals
„Ach mein herzliebes Jesulein,
Mach dir ein rein sanft Bettelein,
Zu ruhn in meines Herzens Schrein,
Dass ich nimmer vergesse dein!“
Der Kassler Kapellmeister Kirill Stankow studiert das zum Aufwärmen mit dem Publikum ein. Was ebenso gut funktioniert wie die blinkenden Weihnachtsmann-Zipfelmützen, die im Saal und auf den Rängen des Pandämoniums verteilt werden und ein eindrucksvolles, fast schon magisches Bild in der Dunkelheit abgeben.
Für die Überlagerung von christlicher Bedeutung und weltlicher Überschreibung (oder umgekehrt) hat Bach selbst gleichsam augenzwinkernd musikalisch die Ermutigung geliefert. Der mitreißende Anfang, das mit Pauken und Trompeten unterlegte „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage!“ hatte er selbst in einem ganz anderen Zusammenhang schon einmal als „Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!“ in einer Glückwunschkantate für seinen seinerzeitigen Köthener Dienstherren verwendet. Ähnlich ist es mit „Schlafe mein Liebster“. Hier dem pikanten Hotelzimmerbesuch zugeordnet, trifft diese szenische Zuordnung weniger das im Weihnachtsoratorium damit gemeinte Jesuskind, als jene ursprüngliche, aus der Herkuleskantate für den sächsischen Kurfürsten, bei dem es um die Verführung des Herkules in das Reich der Wollust geht.
Am Ende, wenn noch einmal der Chor und die Musik den Trost der Weihnachtsbotschaft jubelnd in Erinnerung rufen, sind es von den Choristen herangeführte Zuschauer, die die restlichen Glühlampen in einen üppigen Weihnachtsstern einschrauben, der dann langsam gen Schnürboden entschwebt. Damit endet ein packendes Weihnachtsoratorium, das die Überfremdung der christlichen Überlieferung durch den Kommerz und die Vereinsamung der Einzelnen ebenso aufzeigt, wie sie an die tröstliche Botschaft erinnert, die in Bachs Musik liegt.