Jetzt ist das Ganze doppelt so lang und alle haben eine Stimme. Giorgio Battistelli komplettiert sein Musiktheater von 1990 nach dem Film und Roman von Pier Paolo Pasolini an der Deutschen Oper Berlin. Der deklamatorische Gesangsstil, mit dem alle von sich selbst in der dritten Person sprechen beziehungsweise singen, ist ein tragendes Prinzip des 105minütigen, pausenlosen Abends. Natürlich grundiert von einem packend raunenden Orchestersound, findet unser Kritiker Joachim Lange.
Wenn der Auftrag für eine Opernnovität an den Italiener Giorgio Battistelli (*1953) geht, dann gehört das mittlerweile in die Kategorie Auf-Nummer-sicher-gehen. Der Italiener versteht sein Handwerk und ist obendrein unter anderem damit berühmt geworden, dass er mit Handwerkern und deren Werkzeugen Musik gemacht hat. Er hat sein Gespür für literarische Vorlagen, die für eine Veroperung geeignet sind, schon vielfach bewiesen. Wie der Spielplanzufall es will, hat er jetzt an der Deutschen Oper Berlin mit „Il Teorema di Pasolini“, kurz nach seinem Landsmann Salvatore Sciarrino in Hamburg mit „Venere e Adonis“, dem Genre Oper eine Novität hinzugefügt. Dort wie hier mit dem Ehrgeiz, etwas Originelles, aber so Nachspielbares zu schaffen, dass es sein Publikum auch jenseits der für Novitäten offenen Metropolen findet, rein ressourcentechnisch auch für andere Häuser geeignet ist und mit seiner Bühnentauglichkeit Neugier weckt.
Nun ist das bewegte Leben des 1922 in Bologna geborenen Pier Paolo Pasolini zwar schon 1975 unter tragischen Umständen durch einen Mord gewaltsam zu Ende gegangen. Einige seiner Filme haben jedoch Kultstatus. „Teorema – Geometrie der Liebe“ aus dem Jahre 1968 gehört ohne Zweifel in diese Kategorie, gleich neben „Medea“ mit Maria Callas (1969) oder „Die 120 Tage von Sodom“ (1975).
Im Buch und dann im noch berühmteren Film „Teorema“ taucht ein charismatischer junger Mann als Gast in einer großbourgeoisen Mailänder Familie auf. Dieser Fremde übt, ohne viel zu tun, auf alle Mitglieder dieses Haushalts eine solche intellektuelle, vor allem aber erotische Anziehungskraft aus, dass ihm nacheinander alle regelrecht verfallen und erliegen. Die Hausangestellte Emilia, der Sohn Pietro, die Tochter Odetta, deren Mutter Lucia und dann auch noch deren Vater Paolo. Nach der plötzlichen Abreise dieses Gastes implodiert das gesamte Beziehungsgefüge, weil er offensichtlich etwas bewirkt oder freigelegt hat, was bis dahin verschüttet war. Dass es in der Schwebe bleibt, ob der Gast nun ein Abgesandter des Himmels oder der Hölle oder aber womöglich eine Projektion ist, gehört zu dem seinerseits verführerischen Angebot, das Pasolini der interpretierenden Nachwelt macht. Oder auch als Inspiration hinterlässt, so wie jetzt für Battistellis Oper und das Inszenierungsteam, das es in den neuen Aggregatzustand einer Bühnenwirklichkeit überführt.
Der Plot funktioniert auf den ersten Blick allein schon, wenn man ihn nur als Coming-out-Geschichte liest, die im katholischen Italien der 60er Jahre (und nicht nur da) eine Geschichte der Grenzüberschreitung, Tabuverletzung und damit Befreiung war. Das konnte der damals (provozierend) offen schwule, politisch Links stehende Pasolini mindestens so gut nachvollziehen, wie sein älterer deutscher Komponisten-Kollege Hans Werner Henze, der seinerzeit aus der Enge des restaurativen Nachkriegs(west)deutschlands in das in dieser Hinsicht immer noch relativ freiere Italien entflohen war. Henze hatte übrigens selbst vor, „Teorema“ zu vertonen, hat aber seine Rechte daran, dem ein Vierteljahrhundert jüngeren Battistelli überlassen. Der realisierte das Projekt für die Münchner Biennale 1990 mit Respekt vor diesem Auftraggeber dann ein erstes Mal. Damals – ziemlich kühn gedacht – als Oper ohne Gesang.
Jetzt ist das Ganze doppelt so lang und alle haben eine Stimme. Die metaphorische Sprachlosigkeit innerhalb dieser Familie, die auf ihren Untergang zutreibt, und nur der emotionalen Erschütterung einer unerwarteten Verführung (zu sich selbst ?) bedarf, um die Katastrophe zu vollenden, hat jetzt viele Worte. Der deklamatorische Gesangsstil, mit dem alle von sich selbst in der dritten Person sprechen beziehungsweise singen, ist ein tragendes Prinzip des 105minütigen, pausenlosen Abends. Natürlich grundiert von einem packend raunenden Orchestersound, der – wie das Parlando – die Spannung hält. Der Darmstädter GMD Daniel Cohen animiert das Orchester der Deutschen Oper dabei zu einem imponierenden Höhenflug an Präzision und Sinnlichkeit. Man wird zwar nicht Zeuge eines musikalischen Umsturzes, aber doch eines gelungenen Versuchs, aus einer bekannten Buch- und Filmvorlage ein in sich stimmiges Musiktheater zu machen.
Da das Regieduo Dead Centre (Ben Kidd und Bush Moukarzel), Nina Wetzel (Ausstattung) und Sébastian Dupouey (Video) das Ganze als einen Laborversuch mit Mailänder Industriellenfamilie und fremdem Gast als Probanden auf die Bühne bringen und dazu eine ganze Mannschaft an Wissenschaftlern hinzufügen, hat jeder der singenden Protagonisten ein Schauspielerdouble. Im ersten Teil, in dem der Gast nacheinander alle verführt, um am Ende so plötzlich wie er gekommen ist wieder abzureisen, agieren die Schauspieler und die unter weißen Schutzanzügen verborgenen Sänger liefern den Vokalpart. Dabei referieren sie gleichsam deren Rollen und ihr Tun selbst – wie heute im Schauspiel en vouge – in der dritten Person. Nur den geheimnisvollen Gast gibt es in Gestalt von Nikolay Borchev nur einmal. Er entledigt sich zu Beginn seines Schutzanzuges, steigt in den „Versuch“ ein und setzt ihn damit in Gang. Dafür öffnen sich immer wieder einzelne kleine Räume in der Rückwand. Esszimmer, Schlafzimmer, Garten etc. Mal einzeln, mal mehrere nebeneinander. Dann, im zweiten Teil, nach der Abreise des Gastes, alle in zwei Etagen gleichzeitig.
Wenn der Fremde die jetzt veränderte und in ihrem Selbstverständnis komplett verunsicherte und orientierungslose Familie wieder verlässt, wechseln die singenden Interpreten in die Szene und übernehmen auch das Spiel ihrer Alter Egos selbst. Monica Bacelli übernimmt dann von Schauspielerin Doris Gruner den kompletten Part der etwas unheimlichen Haushälterin Emilia und steigt in den Schnürboden auf und findet zu sich selbst als einer Heiligen. Wenn Meechot Marrero die Tochter des Hauses Odetta auch spielt und ihr Double Nelida Martinez die Szene verlässt, obliegt es ihr allein den psychischen Knacks zu verkörpern, den sie davon trägt. Andrei Danilov als junger Pietro (sein stummes Alter Ego was Eric Naumann) hat es da besser. Er versucht als bildender Künstler mit Hang zur Performance weiterzuleben. Was ja durchaus gelingen könnte. Am schwersten trifft es das Industriellenehepaar Lucia und Paolo. Die Lucia, die von Paula D. Koch gespielt und von Ángeles Blancas Gulin mit intensiver Leidenschaft gesungen wird, stürzt sich im zweiten Teil in ungezügelte Sexabenteuer. Dass Paolo bei Pasolini seine Fabrik an die Arbeiter verschenkt hat, lässt Battistelli in dem gemeinsam mit Ian Burton gemeinsam gemachten Libretto weg. Aber, dass er ganz am Ende nackt und einsam in der Wüste einen Urschrei ausstößt, mit dem die Oper endet, spricht für sich. Die Qualität des Protagonisten-Ensembles und des Orchesters tragen ebenso wie die in sich stimmige szenische Umsetzung zum bejubelten Erfolg dieser Uraufführung bei.