Es ist nicht so einfach, die unsichtbare Mauer um das schmale Kernrepertoire zu durchbrechen. Jubiläen, Festspiele oder die Entdeckerlust von Intendanten bieten da noch am ehesten einen günstigen Anlass. Karol Szymanowskis (1882-1937) „Król Roger“ profitiert gerade in Dessau als Beitrag des heimischen Opernhauses zum Kurt Weill Fest davon.
Irisierend suggestive Klänge in Dessau mit Karol Szymanowskis „Król Roger“
Der Jubel des Premierenpublikums und die für das Anhaltische Theater längst selbstverständliche musikalische und szenische Qualität der Umsetzung belegten am Samstag, dass diese Rechnung voll aufgegangen ist! Mittlerweile fragt man sich sowieso, warum sich dieser „König Roger“ nicht öfter die Ehre auf deutschen Bühnen gibt.
Der Plot erzählt die Geschichte einer Selbsterfahrung, die man auch als Coming-out-Geschichte lesen könnten, wenn man sie als eine Art künstlerische Sublimierung der Lebenssituation des homosexuellen Komponisten in seiner Zeit lesen würde. Was auf sehr subtile und dezente Weise auch in der Inszenierung und Choreografie des Dessauer Ballettchefs Stefano Giannetti mitschwingt, diese aber nicht dominiert. Mit wachem Blick für den möglichen biographischen Kontext erzählt er die Geschichte weder als historisches Mysterienspiel, noch als Protokoll aus dem Psycholabor, sondern geradeaus und klar.
In dem von Orthodoxie beherrschten Reich des sizilianischen Königs Roger und seiner Frau Roxana bringt ein fremder Hirte als Verkünder einer neuen, dionysischen Lehre die bis dahin geltenden moralischen Grundfesten der Gesellschaft ins Wanken und zum Einsturz. Er zieht zuerst die Königin, das Volk und dann auch Roger in seinen Bann. Die nächtliche Verteidigung des Hirten vor dem König eskaliert in einer ekstatischen Orgie. Die folgende Pilgerreise des Königs zur Selbstfindung endet mit dem Triumph des Dionysos und einer Hinwendung Rogers zur aufgehenden Sonne …
Für die Bühne begnügt sich Guido Petzold mit einem Rundhorizont und einer Art Felsenskulptur davor. Bei den Kostümen langt Judith Fischer vor allem beim Erzbischof (Caleb Yoo) – nach dem Motto kleine Rolle große Robe – richtig zu. Dem Volk bleibt nüchternes Dunkelblau. Der von Sebastian Kennerknecht bzw. Dorislava Kuntscheva einstudierte auch darstellerisch und choreografisch geforderte Opern- bzw. Kinderchor trägt transparente Gesichts-Masken. So, als wollte man sich vor den Infektionen eines anderen Glaubens schützen. Zu Kay Stiefermanns langem zugeknöpftem Königsmantel wirkt der hell funkelnde goldene Mantel, den Alexander Geller als Hirte offen überm nackten Oberkörper trägt, wie der Gegenentwurf. Dieser Verführer par excellence wahrt zwar sein Inkognito als Hirte, aber verbreitet vom ersten Auftauchen an die Verführungskraft des Dionysos. Wobei die ihn umgebenden vier tanzenden Paare mit ihrer Körperlichkeit (die sozusagen allein das Kostüm bildet) als der Inbegriff von innerer Freiheit auch im Erotischen seinen Auftritt attraktiv machen. Individuelles Charisma und vokale Verführungskraft sind aber nicht nur bei dem geschmeidigen Geller ganz und gar beieinander. Auch Kay Stiefermann beglaubigt seine Selbstfindung in jeder Hinsicht. Anja Vegry als Roxana demonstriert mit jedem Aufblühen ihrer betörenden Stimme Extraklasse. Christian Sturm ist der wohldosierte, in sich ruhende arabische Gelehrte Edrisi an der Seite des Königs auf dessen Selbstfindungstripp.
Der zweiten Frau an der Spitze der Anhaltischen Philharmonie gleich hinter dem GMD Elisa Gogou gelingt es souverän, den irisierend suggestiven, immer wieder aufblühenden farbenreichen Klang in der Balance mit der Bühne zu halten. Sie trägt die Protagonisten auf Händen und vermag es zugleich, die wagnerkompatiblen Dimensionen des Dessauer Theaters wie maßgeschneidert zu füllen. So, wie die Dessauer das können, wird nicht nur wie jüngst Wagners „Tristan und Isolde“, sondern jetzt auch Szymanowskis „König Roger“ zu einem Ereignis, dass man auf keinen Fall versäumen sollte!
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