Beim Erfinden, Entwickeln, Proben und Präsentieren von Musik sind kollaborative Prozesse gattungstypisch für Jazz, Improvisation, Solokonzerte und Elektronische Musik in kooperativer Zusammenarbeit von Komponierenden und technischem Personal. Eine neue Entwicklung seit den 2010er-Jahren ist, dass sich immer mehr Komponierende und Interpretierende zu freien Ensemble- oder Musiktheaterkollektiven zusammenschließen, um die übliche Arbeitsteilung zugunsten kokreativer Prozesse und anderer künstlerischer Resultate zu dynamisieren.
Kollaborativ, weiblich, utopisch, ohnmächtig
Klangkollektiv
Die Chicagoer Jazzmusikerin Matana Roberts verteilte in „Elegy for Tyre“ das SWR Symphonieorchester auf Bühne und Quintette im Raum, um nach Handzeichen von Dirigent Baldur Brönnimann exemplarische Klangtexturen zu erzeugen: leises Summen, flirrende Punktefelder, impulsive Gesten sowie konsonante, mikrotonale oder wahlweise geräuschhafte Klangflächen. Die Raum-Klang-Plastik unterforderte zwar merklich die Musikerinnen und Musiker, zeigte das gemeinschaftliche Musizieren aber als sozialutopisches Gegenmodell zum real existierenden Unfrieden, der konkret mit der Polizeigewalt benannt wurde, die Anfang 2023 in Tennessee den Afroamerikaner Tyre Deandre Nichols zu Tode prügelte. Auch Éliane Radique und Carol Robinson behandelten den traditionellen Apparat jenseits singulärer Autorschaft. Stellvertretend für die 91-jährige französische Elektronikkomponistin erarbeitete die US-Amerikanerin Robinson mit dem SWR-Orchester das fast dreißigminütige „Occam Océan Cinquanta“. Mit ruhigen Bewegungen zog sie Instrumente und Stimmgruppen wie Orgelregister aus dem Tutti, als griffe sie die Klänge hypnotisch aus der Luft, um sie wie beim Theremin in Echtzeit auf- und abzublenden, zu verdichten, zu Glissandi zu überlagern und endlich in ruhigem Unisono auslaufen zu lassen. Die unmittelbare Gestaltung fließender Klangwellen ohne Noten wirkte magisch, ging aber – wie oft bei kollektiven und improvisierten Verläufen – auf Kosten von Details, Struktur, Kontrast und prägnanter Form.
Expressiv und technoid
Nachdem das Duo RAGE Thormbones 2022 bereits Exzerpte seiner selbst erarbeiteten Solopartien zu Clara Ianottas „where the dark earth bends“ geboten hatten, wurde sein an den Schallstücken der Posaunen mikrophoniertes Flattern, Dröhnen, Sirren und Rauschen nun von orchestral-diffuser Klangmasse erstickt. Die einseitige Fixierung auf Klang, Kontinuum und Farbe fand in Sara Glojnarics „sugarcoating #4“ ein rhythmisch-temporeiches Gegenstück. Zwei Drumsets pumpten rockige Energie in die Baarsporthalle, und das Orchester simulierte digitale Soundgenerierungsverfahren wie Granularsynthese oder Drumcomputer mit beliebig steuerbarer Schlagzahl. Zwei Tage später spielte das SWR-Orchester auch im Abschlusskonzert unter Leitung von Ingo Metzmacher die Uraufführung von Younghi Pagh-Paans „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ Die nur sechsminütige, aber umso expressivere Miniatur verwandelte die Trostworte des auferstandenen Jesus Christus an Maria Magdalena zum Sehnsuchts- und Hoffnungsmotiv spannungsvoll gezogener und aufgelöster Vorhaltsdissonanzen. Steven Kazuo Takasugi streckte in seinem fünfzigminütigen Konzert für Klavier und Orchester dagegen beschränktes Material auf Überlänge. Prismatisch versprengte Tonpunkte huschten per Lautsprecher ort- und körperlos durch den Raum, während Pianist Roger Admiral am Fließband prasselnde Tonkaskaden abspulte und wie in einer Fabrikhalle von lautstarkem Hämmern, Donnern und Fauchen überfahren wurde. Francesca Verunelli erhielt für ihr richtungslos tastendes „Tune and Retune II“ den Preis des SWR Symphonieorchesters, was insofern überraschte, als gerade diese fixierte Partitur die von der Jury hervorgehobene „kollektive Klangsuche“ vermissen ließ.
Dystopie und Satire
Das Ensemble Ascolta unter Leitung von Catherine Larsen-Maguire brachte zwei vierzigminütige Tandem-Kollaborationen von je einer Komponistin und Dichterin zur Uraufführung. Anja Kampmanns empfindsamer Prosatext „Dunst“ schilderte das arkadische Idyll einer lichten Sommerlandschaft, deren menschenleere Krater und rostige Ruinen zugleich dystopische Züge aufwies. Elnaz Seyedi unterlegte der durchgehenden Narration eine eher hörspielhafte düstere Szenerie aus dunklen Farben und dumpfem Pochen. Auf Augenhöhe trafen sich Musik und Text in der Groteske „Was wird hier eigentlich gespielt?“ von Iris ter Schiphorst und Felicitas Hoppe. Die satirische „Doppelbiographie des 21sten Jahrhunderts“ beginnt als Horror-Märchen: Gott schlägt ein unartiges Kind mit Krankheit und Tod, das dann noch aus dem Grab sein aufmüpfiges Ärmchen reckt und erst Ruhe gibt, als die Mutter es mit der Gerte züchtigt. Dann will das widerspenstige Ärmchen Dirigent werden. Seine Lieblingsinstrumente sind Klavier, Cello und Bassklarinette, die prompt mit Soli hervortreten oder mit einem fürwitzigen Jazz-Solo der Trompete vertauscht werden. Die Revue bietet banalen Spaß und hintergründigen Witz, gespickt mit Zitaten, Reimen, Kalauern, Mythen, Kinder- und Volksliedern. Hoppe und Salome Kammer führen sprechend und singend durch Barockmusik, Bodypercussion, Peter Ablingers „Voice and Piano“ und „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“. Der Popsong „Every Breath You Take“ von „The Police“ wird zu „Die Polizei geht um“ abgewandelt. Die Frage, „Wie klagt man gegen die Donaueschinger Unterwelt?“ beantwortet eine Kakophonie wilder Dissonanzen und schräger Geräuschklänge. Der an den „lieben Augustin“ adressierten Appell „alles ist hin“, „wach auf, es brennt!“, „der Kammerton brennt!“ richtet sich letztlich ans Publikum. Am Ende grölt man gemeinsam Beethoven/Schillers „Ode an die Freude“. Doch die Utopie „alle Menschen werden Brüder“ geht in Gewehrsalven und Granatenexplosionen unter. Das ist plakativ und ehrlich zugleich: denn gegen Krieg vermag Kunst nur Ohnmacht zu demonstrieren.
Ensemble Yarn/Wire
Eine Entdeckung war das exzellente New Yorker Perkussions- und Klavierquartett Yarn/Wire. Wegen seiner weiten Anreise und fantastischen Vielseitigkeit zwischen Avantgarde, Jazz, Minimalismus, Ambiente und Hypervirtuosität gab die 2005 gegründete Formation sinnvollerweise gleich zwei Konzerte. Das erste präsentierte Kollaborationen mit drei anderen New Yorker Musikschaffenden. Aus Respekt vor Donaueschingen sah sich Multiinstrumentalist Tyshawn Sorey allerdings zu einem Klischee von Avantgardemusik veranlasst. Sein „For Ross Gay“ bot wie im seriellen Punktualismus nur hier und da müde Tönchen, kling, klang, pling, plong, als seien Rhythmus, Metrum, Harmonik und Melodie verboten. Variantenreicher agierte Saxophonistin Ingrid Laubrock mit wahlweise sanften oder energischen Spielweisen. Als Hommage an Garn/Draht setzte der fantastische Trompeter Peter Evans wie am Spinnrad mit Permanentatmung ein Perpetuum Mobile aus schnellen Rotationsfiguren in Gang. Stets anders gesetzte und zersetzte Patterns verliehen den minimalistischen Webmustern einen sogartigen Material- und Formverlauf: ein Höhepunkt an Virtuosität und Brillanz. Im zweiten Konzert spielte Yarn/Wire die mit Annea Lockwood entwickelte Gemeinschaftskomposition „Into the Vanishing Point“, die das Insektensterben mit leisem Knistern, Krabbeln, Kratzen, Schwirren und einem alles plattgewalzenden Trommelwirbel thematisierte. Ähnlich programmatisch simpel warnte auch Giulia Lorusso vor Naturzerstörung und feierte Bakudi Scream seine Fortentwicklung zum trashig-klamottigen Cyborg. Olga Neuwirths „Black Dwarf – Images from Dark Spaces“ verteilte schließlich im Bartóksaal der Donauhallen quadrophon Buckelgongs, Aluminiumplatten, Stahlfedern und gleißende Synthesizer-Sounds. Der titelgebende schwarze Zwerg tändelte um das Publikum mit meditativ-ruhigem Industrial-Gamelan oder nahm die Hörerschaft als wütend aufgeblähter Riesentroll mit stampfender Maschinenwucht in die Zange: auch das ein fernes Echo des Geschützdonners in der Ukraine, oder auch in Israel und Palästina, oder in Syrien, Südsudan, Kongo, Burkina Faso, Äthiopien, Jemen ...
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!