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Keine Noten auf den Pulten, keine Dirigierpartitur: Carol Robinson realisierte Éliane Radiques magische Klängflächen und -skulpturen mit einem exzellenten und und genussfreudigen SWR Symphonieorchester. Foto: Astrid Karger.

Keine Noten auf den Pulten, keine Dirigierpartitur: Carol Robinson realisierte Éliane Radiques magische Klängflächen und -skulpturen mit einem exzellenten und und genussfreudigen SWR Symphonieorchester. Foto: Astrid Karger.

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Kollaborativ, weiblich, utopisch, ohnmächtig

Untertitel
Resümee der Donaueschinger Musiktage 2023 · Von Rainer Nonnenmann
Vorspann / Teaser

Beim Erfinden, Entwickeln, Proben und Präsentieren von Musik sind kollaborative Prozesse gattungstypisch für Jazz, Improvisation, Solokonzerte und Elektronische Musik in kooperativer Zusammenarbeit von Komponierenden und technischem Personal. Eine neue Entwicklung seit den 2010er-Jahren ist, dass sich immer mehr Komponierende und Interpretierende zu freien Ensemble- oder Musiktheaterkollektiven zusammenschließen, um die übliche Arbeitsteilung zugunsten kokreativer Prozesse und anderer künstlerischer Resultate zu dynamisieren.

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Echoräume – das Ensemble Ascolta spielt Tandemproduktionen von Komponist*innen und Schriftstellerinnen. Das gelingt mal besser mal schlechter, findet und raisoniert Rainer Nonnenmann in den ad-hoc geteilten Impressionen vom 5. Konzert der Donaueschinger Musiktage 2023.

Besprochene Werke:

Elnaz Seyedi & Anja Kampmann

Dunst - als käme alles zurück

für zwei Stimmen und Ensemble (UA)

Iris ter Schiphorst & Felicitas Hoppe

Was wird hier eigentlich gespielt?

Doppelbiographie des 21sten Jahrhunderts

für zwei Stimmen, Ensemble und Elektronik (UA)

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Auf solchen Arbeitsweisen lag nun der Fokus der diesjährigen Donaueschinger Musiktage. Unter dem Motto „ColLABORationen“ präsentierte die neue künstlerische Leiterin Lydia Rilling Gruppen-, Tandem- und Teamwork-Ergebnisse sowie 18 von insgesamt 23 Uraufführungen von Komponistinnen, von denen viele erstmalig in Donaueschingen vorgestellt wurden. So weiblich waren die Musiktage noch nie (siehe „drangeblieben“ Seite 36). Dem Anspruch auf Laborcharakter und Experiment wurde das Festival nur teilweise gerecht. Weder gab es nennenswerte mediale, performative oder szenische Ansätze noch alternative Präsentationsweisen jenseits von Installationen und traditionellem Konzertformat.

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Klangkollektiv

Die Chicagoer Jazzmusikerin Matana Roberts verteilte in „Elegy for Tyre“ das SWR Symphonieorchester auf Bühne und Quintette im Raum, um nach Handzeichen von Dirigent Baldur Brönnimann exemplarische Klangtexturen zu erzeugen: leises Summen, flirrende Punktefelder, impulsive Gesten sowie konsonante, mikrotonale oder wahlweise geräuschhafte Klangflächen. Die Raum-Klang-Plastik unterforderte zwar merklich die Musikerinnen und Musiker, zeigte das gemeinschaftliche Musizieren aber als sozialutopisches Gegenmodell zum real existierenden Unfrieden, der konkret mit der Polizeigewalt benannt wurde, die Anfang 2023 in Tennessee den Afroamerikaner Tyre Deandre Nichols zu Tode prügelte. Auch Éliane Radique und Carol Robinson behandelten den traditionellen Apparat jenseits singulärer Autorschaft. Stellvertretend für die 91-jährige französische Elektronikkomponistin erarbeitete die US-Amerikanerin Robinson mit dem SWR-Orchester das fast dreißigminütige „Occam Océan Cinquanta“. Mit ruhigen Bewegungen zog sie Instrumente und Stimmgruppen wie Orgelregister aus dem Tutti, als griffe sie die Klänge hypnotisch aus der Luft, um sie wie beim Theremin in Echtzeit auf- und abzublenden, zu verdichten, zu Glissandi zu überlagern und endlich in ruhigem Unisono auslaufen zu lassen. Die unmittelbare Gestaltung fließender Klangwellen ohne Noten wirkte magisch, ging aber – wie oft bei kollektiven und improvisierten Verläufen – auf Kosten von Details, Struktur, Kontrast und prägnanter Form.

Expressiv und technoid

Nachdem das Duo RAGE Thormbones 2022 bereits Exzerpte seiner selbst erarbeiteten Solopartien zu Clara Ianottas „where the dark earth bends“ geboten hatten, wurde sein an den Schallstücken der Posaunen mikrophoniertes Flattern, Dröhnen, Sirren und Rauschen nun von orchestral-diffuser Klangmasse erstickt. Die einseitige Fixierung auf Klang, Kontinuum und Farbe fand in Sara Glojnarics „sugarcoating #4“ ein rhythmisch-temporeiches Gegenstück. Zwei Drumsets pumpten rockige Energie in die Baarsporthalle, und das Orchester simulierte digitale Soundgenerierungsverfahren wie Granularsynthese oder Drumcomputer mit beliebig steuerbarer Schlagzahl. Zwei Tage später spielte das SWR-Orchester auch im Abschlusskonzert unter Leitung von Ingo Metzmacher die Uraufführung von Younghi Pagh-Paans „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ Die nur sechsminütige, aber umso expressivere Miniatur verwandelte die Trostworte des auferstandenen Jesus Chris­tus an Maria Magdalena zum Sehnsuchts- und Hoffnungsmotiv spannungsvoll gezogener und aufgelöster Vorhaltsdissonanzen. Steven Kazuo Takasugi streckte in seinem fünfzigminütigen Konzert für Klavier und Orchester dagegen beschränktes Material auf Überlänge. Prismatisch versprengte Tonpunkte huschten per Lautsprecher ort- und körperlos durch den Raum, während Pianist Roger Admiral am Fließband prasselnde Tonkaskaden abspulte und wie in einer Fabrikhalle von lautstarkem Hämmern, Donnern und Fauchen überfahren wurde. Francesca Verunelli erhielt für ihr richtungslos tastendes „Tune and Retune II“ den Preis des SWR Symphonieorchesters, was insofern überraschte, als gerade diese fixierte Partitur die von der Jury hervorgehobene „kollektive Klangsuche“ vermissen ließ.

Dystopie und Satire

Das Ensemble Ascolta unter Leitung von Catherine Larsen-Maguire brachte zwei vierzigminütige Tandem-Kollaborationen von je einer Komponistin und Dichterin zur Uraufführung. Anja Kampmanns empfindsamer Prosatext „Dunst“ schilderte das arkadische Idyll einer lichten Sommerlandschaft, deren menschenleere Krater und rostige Ruinen zugleich dystopische Züge aufwies. Elnaz Seyedi unterlegte der durchgehenden Narration eine eher hörspielhafte düstere Szenerie aus dunklen Farben und dumpfem Pochen. Auf Augenhöhe trafen sich Musik und Text in der Groteske „Was wird hier eigentlich gespielt?“ von Iris ter Schiphorst und Felicitas Hoppe. Die satirische „Doppelbiographie des 21sten Jahrhunderts“ beginnt als Horror-Märchen: Gott schlägt ein unartiges Kind mit Krankheit und Tod, das dann noch aus dem Grab sein aufmüpfiges Ärmchen reckt und erst Ruhe gibt, als die Mutter es mit der Gerte züchtigt. Dann will das widerspenstige Ärmchen Dirigent werden. Seine Lieblingsinstrumente sind Klavier, Cello und Bassklarinette, die prompt mit Soli hervortreten oder mit einem fürwitzigen Jazz-Solo der Trompete vertauscht werden. Die Revue bietet banalen Spaß und hintergründigen Witz, gespickt mit Zitaten, Reimen, Kalauern, Mythen, Kinder- und Volksliedern. Hoppe und Salome Kammer führen sprechend und singend durch Barockmusik, Bodypercussion, Peter Ablingers „Voice and Piano“ und „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“. Der Popsong „Every Breath You Take“ von „The Police“ wird zu „Die Polizei geht um“ abgewandelt. Die Frage, „Wie klagt man gegen die Donaueschinger Unterwelt?“ beantwortet eine Kakophonie wilder Dissonanzen und schräger Geräuschklänge. Der an den „lieben Augustin“ adressierten Appell „alles ist hin“, „wach auf, es brennt!“, „der Kammerton brennt!“ richtet sich letztlich ans Publikum. Am Ende grölt man gemeinsam Beethoven/Schillers „Ode an die Freude“. Doch die Utopie „alle Menschen werden Brüder“ geht in Gewehrsalven und Granatenexplosionen unter. Das ist plakativ und ehrlich zugleich: denn gegen Krieg vermag Kunst nur Ohnmacht zu demonstrieren.

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Mit zwei Klavieren und zwei Schlagwerken schaffen sich die New Yorker Musiker*innen von Yarn/Wire ein Repertoire, das ganz auf sie zugeschnitten ist. Bei den Donaueschinger Musiktagen 2023 präsentierten sie sich mit unterschiedlichsten Komponist*innen und Konzepten. Unser Foto zeigt die Perkussionistin Sae Hashimoto. Foto: Astrid Karger

Mit zwei Klavieren und zwei Schlagwerken schaffen sich die New Yorker Musiker*innen von Yarn/Wire ein Repertoire, das ganz auf sie zugeschnitten ist. Bei den Donaueschinger Musiktagen 2023 präsentierten sie sich mit unterschiedlichsten Komponist*innen und Konzepten. Unser Foto zeigt die Perkussionistin Sae Hashimoto. Foto: Astrid Karger

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Ensemble Yarn/Wire

Eine Entdeckung war das exzellente New Yorker Perkussions- und Klavierquartett Yarn/Wire. Wegen seiner weiten Anreise und fantastischen Vielseitigkeit zwischen Avantgarde, Jazz, Minimalismus, Ambiente und Hypervirtuosität gab die 2005 gegründete Formation sinnvollerweise gleich zwei Konzerte. Das erste präsentierte Kollaborationen mit drei anderen New Yorker Musikschaffenden. Aus Respekt vor Donaueschingen sah sich Multiinstrumentalist Tyshawn Sorey allerdings zu einem Klischee von Avantgardemusik veranlasst. Sein „For Ross Gay“ bot wie im seriellen Punktualismus nur hier und da müde Tönchen, kling, klang, pling, plong, als seien Rhythmus, Metrum, Harmonik und Melodie verboten. Variantenreicher agierte Saxophonistin Ingrid Laubrock mit wahlweise sanften oder energischen Spielweisen. Als Hommage an Garn/Draht setzte der fantastische Trompeter Peter Evans wie am Spinnrad mit Permanentatmung ein Perpetuum Mobile aus schnellen Rotationsfiguren in Gang. Stets anders gesetzte und zersetzte Patterns verliehen den minimalistischen Webmustern einen sogartigen Material- und Formverlauf: ein Höhepunkt an Virtuosität und Brillanz. Im zweiten Konzert spielte Yarn/Wire die mit Annea Lockwood entwickelte Gemeinschaftskomposition „Into the Vanishing Point“, die das Insektensterben mit leisem Knistern, Krabbeln, Kratzen, Schwirren und einem alles plattgewalzenden Trommelwirbel thematisierte. Ähnlich programmatisch simpel warnte auch Giulia Lorusso vor Naturzerstörung und feierte Bakudi Scream seine Fortentwicklung zum trashig-klamottigen Cyborg. Olga Neuwirths „Black Dwarf – Images from Dark Spaces“ verteilte schließlich im Bartóksaal der Donauhallen quadrophon Buckelgongs, Aluminiumplatten, Stahlfedern und gleißende Synthesizer-Sounds. Der titelgebende schwarze Zwerg tändelte um das Publikum mit meditativ-ruhigem Industrial-Gamelan oder nahm die Hörerschaft als wütend aufgeblähter Riesentroll mit stampfender Maschinenwucht in die Zange: auch das ein fernes Echo des Geschützdonners in der Ukraine, oder auch in Israel und Palästina, oder in Syrien, Südsudan, Kongo, Burkina Faso, Äthiopien, Jemen  ...

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Rainer Nonnenmann teilt direkt nach dem Konzert seine frischen Impressionen vom Konzert des SWR Symphonieorchester mit RAGE Thormbones und Chris Swithinbank am 20.10.2023 im Rahmen der Donaueschinger Musiktage.

Das Programm des Konzerts:

Matana Roberts

Elegy for Tyre: "Welcome to the World through my eyes..." | für Orchester (UA)

Sara Glojnarić

Sugarcoating #4 | für Orchester (Deutsche Erstaufführung)

Clara Iannotta

where the dark earth bends | für zwei Posaunen, Orchester und Elektronik (UA der neuen Version)

Éliane Radigue & Carol Robinson

Occam Océan Cinquanta | für Orchester (UA)

 

Mitwirkende:

RAGE Thormbones, Posaune

Clara Iannotta und Chris Swithinbank, Elektronik

SWR Symphonieorchester

Carol Robinson, Musikalische Einstudierung (Radigue & Robinson)

Baldur Brönnimann, Leitung (Roberts, Glojnarić, Iannotta)

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Tag 3 der Donaueschinger Musiktage 2023: Rainer Nonnenmann erzählt von den Konzerten 6, 7 und 8.

Sein Urteil fällt hart und begeistert aus.

Genannte Werke:

Joanna Bailie

1979

für acht Musiker:innen, Video und Elektronik (UA)

Jessie Marino

Murder Ballads: Volume II

The Positive Reinforcement Campaign (UA)

Tyshawn Sorey

For Ross Gay

für drei Schlagzeuger ind zwei Klaviere (UA)

Ingrid Laubrock

Thinking Holes

für Saxophon, zwei Klaviere und zwei Schlagzeuger (UA)

Peter Evans

Animations

für Trompete, zwei Klaviere und zwei Schlagzeuger (UA)

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Rainer Nonnenmann zieht nach dem Abschlusskonzert Bilanz! Mit dem Abbau im Hintergrund folgt das letzte Foyer-Geflüster. Es war uns eine große Freude.

Die nmz und Rainer Nonnenmann sagen „Tschüss und auf Wiedersehen!“

Besprochene Werke:

  • Younghi Pagh-Paan: Frau, warum weinst Du? Wen suchst Du? für Orchester (UA)
  • Francesca Verunelli: Tune and Retune II für Orchester (UA)
  • Steven Kazuo Takasugi: Konzert für Klavier, Orchester und Elektronik (UA)

Das Rohmaterial dieser Ausgabe wurde von Hanna Fink aufgenommen.

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