Dass „klassische Musik“ (im weitesten Sinne) kein Selbstläufer mehr ist, zeigt auch das erfolgreiche Rheingau-Musik-Festival im 28. Jahr seiner Existenz. Nicht nur Jazz, Literatur und Kabarett stehen mittlerweile weithin sichtbar auf dem Programm, sondern auch Chanson, Tango oder Soul. Im klassischen Bereich zielt man vermehrt auf Zielgruppen: „Konzerte für Cellofans“ oder „Konzerte für Chorliebhaber“ gibt es da. Besonders aufhorchen lässt die Kategorie „Konzerte für Experimentierfreudige“. Dazu zählt das Programm den jungen US-amerikanischen Organisten Cameron Carpenter, das „Ukulele Orchestra of Great Britain“ und die deutsche Formation „Spark“.
„Mit seinem unglaublich virtuosen Spiel, seinem glamourösen Outfit und nicht zuletzt dank seiner selbst entworfenen ‚International Touring-Organ’ hat er die Orgelwelt revolutioniert,“ so preist das Festivalmagazin Cameron Carpenter an. Sein fünfmanualiges Spezialinstrument mit erweitertem Pedal dominiert die Bühne des Friedrich-von-Thiersch-Saales im Wiesbadener Kurhaus. Dank seines Umfangs und seiner zahlreichen Schalter ähnelt es einem überdimensionalen Flugzeugcockpit, und die über die Bühne verteilten Lautsprecher mit herausragenden Pfeifen wirken wie futuristische Kanonen. Den leicht schlaksigen jungen Mann, der da mit seitlich geschorenem Hahnenkamm-Haarschopf und glitzernden Pantoffeln auf die Bühne des Wiesbadener Kurhauses kommt, möchte man zuerst für den mit der Wartung betrauten Techniker halten. Doch es ist Carpenter selbst, der sich einem Interview im Rahmen des Festivalprogramms „Konzertführer live“ stellt.
Locker, unprätentiös, aber ernsthaft antwortet der junge US-Amerikaner auf die Fragen zu seinem Instrument und seinen künstlerischen Vorstellungen. Sein Projekt ist ambitioniert: Das Instrument soll die Möglichkeiten aller bislang existierenden Orgeln verbinden, es soll die Orgel aus ihrer kirchlichen Gefangenschaft befreien und sie ins 21. Jahrhundert hinüberretten. Nach Jahrhunderten voll geistlicher Orgelmusik mag die Idee absurd erscheinen, aber so abwegig ist sie gar nicht, denn die Orgel war ja ursprünglich ein säkulares Instrument, das erst der musikalischen Begleitung in den römischen Arenen diente, dann der Repräsentation am byzantinischen Kaiserhof, und erst über den fränkischen Königshof in den katholischen Gottesdienst einwanderte. Und so verbindet Carpenters Tour-Orgel die Möglichkeiten der verschiedensten Kircheninstrumente mit denen der modernen Kino- und Konzertorgeln.
Überschreiten klanglicher und technischer Grenzen
Dieses in seinem bewahrenden Kern sehr europäische Motiv verbindet sich bei Carpenter mit einer typisch amerikanischen Technikbegeisterung. Es geht ihm durchaus auch um das Überschreiten klanglicher und technischer Grenzen. Mehrfach zieht er die Eroberung des Kosmos durch die Raumfahrt als Analogie heran. Die dem Projekt implizite, unausgesprochene Hoffnung ist, dass mit dem technischen auch ein musikalischer Fortschritt einhergeht. Doch so einfach ist das nicht. Carpenter sagt, er freue sich, vor deutschen Hörern noch eine Bach’sche Triosonate spielen zu können, die dem US-Publikum schon zu schwer und zu langweilig sei. Überhaupt sei die Situation der Künste in den USA beklagenswert. An dieser Stelle aufkommendes Gelächter im Publikum bescheidet er ausdrücklich mit dem Satz „Das ist keine Angelegenheit zum Lachen.“
Carpenters Programm beginnt mit drei Originalwerken von Johann Sebastian Bach. Präludium und Fuge A-Dur BWV 536, Fantasie und Fuge g-moll BWV 542 und die Triosonate d-moll BWV 527 wirken teilweise etwas grell registriert,und zeitweise irritiert der stilfremde Einsatz von Schwelleffekten, aber sein virtuoses Spiel ist großenteils angenehm transparent und lohnt gerade im Fall der Triosonate das Zuhören. Wenn Carpenter eigene Orgelarrangements der Rachmaninow’schen Klavierbearbeitung von Bachs E-Dur Partita für Violine solo oder von Busonis Klavierfassung der berühmte Chaconne aus der D-Moll-Partita spielt, tritt nicht nur die doppelte stilistische Brechung zutage, sondern auch eine Tendenz zum Spektakulären und Zirkushaften. Dass das Instrument eine breite Spanne zwischen Intellektualität und Banalität ermöglicht, hat der Organist bereits im Gespräch eingeräumt. In der basslastigen Registrierung, die oft die Diskantlage verschwimmen lässt, und in der virtuosen Schlussgeste nach einer Stretta scheint er auf ein jüngeres Publikum zu zielen. Im Wiesbadener Kurhaus sitzen freilich kaum junge Leute, sondern eher ältere, die sich jung fühlen oder den jungen Exoten bestaunen wollen.
Im zweiten Teil wirkt Richard Wagners „Meistersinger“-Vorspiel wie eine Art „Einzug der Gladiatoren“ auf einer quäkenden und klappernden Jahrmarktsorgel. Franz Liszts „Funérailles“ hingegen, eine Gedenkmusik für die ungarischen Opfer der Revolution von 1848/49 , erscheinen in der Düsternis der Klangeeffekte und in ihrer atmosphärischen Dichte als sehr ernsthafte und packende Transkription. Das nun folgende Gershwin-Potpourri wirkt wie eine mit musikalischen Pointen geschickt angereicherte Klangreise durch musikalische Stile und Effekte, gipfelnd in einer sehr echt wirkenden Marching-Band-Suggestion. Beim Arrangement von Alexander Skrjabins Klaviersonate Nr. 4 Fis-Dur op. 30 assoziiert man schnell die Klangeffekte von Kintopp und Stummfilm und fragt sich, ob Carpenter das esoterisch geprägte Stück damit eher geerdet oder es in die Banalität befördert hat. Bei der ersten Zugabe, John Philip Sousas Marsch „Stars and Stripes forever“, erwacht im Publikum der Instinkt zum Mitklatschen so stark, dass ihn der Organist selbst für das fein durchgehörte Trio abstellen muss. In der zweiten Zugabe, John Kanders Song-Klassiker „New York, New York“ ist dann vor lauter spielerischer Ornamentik die Melodie kaum mehr zu erkennen. Einmal mehr scheint die Technik die Musik zu überwuchern. Mutige und gekonnte Experimentierfreude ist Carpenter nicht abzusprechen. Wohin sie führt, bleibt abzuwarten.
Ukulele Orchestra of Great Britain
Gleichfalls im Wiesbadner Kurhaus gastierte das Ukulele Orchestra of Great Britain. Hier pries das Festivalmagazin „eine gehörigen Portion britischen Humor“, „musikalische Intelligenz“ und „die Vielseitigkeit des kleinen Viersaiters“, der Ukulele. Die Sieben-Personen-Truppe wurde dem Lob gerecht und beeindruckte zudem durch ihre beachtlichen instrumentalen und sängerischen Fähigkeiten und ihr Arrangier-Geschick. Stilistisch bewegte sie sich vorwiegend im Bereich der Pop- und Filmmusik der letzten Jahrzehnte, und das Publikum, darunter eingeschworene Fans, freute sich offensichtlich, die Hits aus Jugendzeiten wiederzuhören. Besonders innovativ wirkte dieses Konzert nicht, eher wie die solide Weiterführung eines alten Erfolgrezepts.
„Spark“
Die deutsche Gruppe „Spark“, 2011 mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet, besteht aus einer ungewöhnlichen Besetzung mit zwei Blockflöten (Andrea Ritter und Daniel Koschitzki), wahlweise Violine oder Viola (Stefan Glaus), Violoncello (Victor Plumettaz) und Klavier (Mischa Cheung). Über sie heißt es im Festivalmagazin, sie bewege sich „virtuos und völlig unverkrampft zwischen den verschiedensten musikalischen Welten“ und kombiniere „klassische Meister mit zeitgenössischer Avantgarde, Minimalmusic, packenden Rhythmen und Filmmusik“. Was „Spark“ dann auf Schloss Johannisberg durchaus gekonnt musizierte – Stücke der Zeitgenossen Chiel Meijering, Fazil Say, Kamran Ince, Kenji Bunch, Péter Pejtsik und des Altmeisters Georg Philipp Telemann – fiel dann im wesentlichen unter die Kategorie „peppig und gefällig“. Während die Flötisten in Habitus und Kleidung als mittelalterliche Spielleute posierten, gefiel sich der Pianist in verzückt-romantischer Haltung, und die Streicher sorgten für den klassisch-seriösen Anstrich. Vom instrumentalen Volumen her in der Hinterhand, erschöpfte sich der Blockflöten-Anteil oft in virtuosen Figurationen. Hier, so mein Eindruck, wird musikalisch nicht mehr viel gewagt, hier schwimmt ein Ensemble auf der Erfolgswelle.
„Wildes Holz“
Interessanter wirkte da schon ein zweiter Versuch, die Blockflöte aus dem Käfig von Alter Musik und Musikpädagogik zu befreien. „Wildes Holz“ mit Tobias Reisige (Blockflöte), Anto Karaula (Gitarre) und Markus Conrads (Kontrabass und Mandoline) war zwar nicht unter dem Label „experimentierfreudig“ angekündigt, bewies aber mit seinem neuen Programm „Astrein“ alle notwendigen Eigenschaften. Reisige benutzt nicht nur alle möglichen Blockflötenregister zwischen Sopranino und Subgroßbass, er setzt sie auch sehr gezielt nach Lage und Timbre ein. Dazu kommen als Optionen Techniken wie Flatterzunge und Klickgeräusche mit dem Mund, Klappen- und Trommeleffekte mit der Hand, die mittelalterliche Ein-Mann-Kombination von Trommel und Einhandflöte, eine der Traversflöte vergleichbare rauschende Tonbildung, das Singen ins Instrument und das synchrone, parallele oder gegenläufige Spiel mit zwei Flören im Mund. Auch verwendet er das Overdub-Verfahren, mit dem er eine Tonspur nach der anderen aufnimmt und danach erklingen lässt, so dass sukzessive ein mehrstimmiger Blockflötensatz entsteht.
Reisinges Mitspieler sind exzellente Jazzmusiker, und zusammen loten sie ein breites Spektrum von Spielweisen und Satztechniken aus. Erstaunlich ist, wie nahe Klassik und Folklore, Mittelalter, Jazz, Pop und Rock oft beieinander liegen. In Bachs bekannter Badinerie aus der H-Moll-Suite finden sich plötzlich Popmusik-Einlagen. Reisinge schlägt dabei ein hohes Tempo an, aber nicht ohne deutliches Ritarndo vor dem Eintritt der expressivsten Stelle, der Neapolitaner-Wendung nach C-Dur. (Ironischerweise heißt der Titel „Mozart 40“, weil bei einem Konzert vor Schülern ein Junge die Badinerie mit seinem Handy-Klingelton aus Mozarts großer G-Moll-Sinfonie verwechselte.) Beethovens „Pathetique“ kippt unversehens in Balkan-Jazz. Das Andante grazioso aus Mozarts Klaviersonate KV 331 fängt an zu swingen, und der „Türkische Marsch“ wird zu chassidischer Klezmer-Musik.
Daneben stehen gelungene Eigenkompositionen und witzige Rockmusik-Adaptionen (bis hin zu „Highway to hell“ der Gruppe AC/DC), die immer wieder geschickt zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit balancieren. Kleine Bühnenchoreographien machen den Zuhörer schmunzeln, verdeutlichen aber auch musikalische Strukturen. Für ein zartes Liebeslied verzichtet das Trio auf seine Mikrofone und zieht mit Flöte, Gitarre und Kontrabass durch das dicht gedrängt sitzende Publikum. Als gelernte Straßenmusiker wissen die Drei von Wildes Holz, wie man Aufmerksamkeit weckt. Das vor Beginn noch geräuschvoll mit Essen, Trinken und Unterhaltung beschäftigte Publikum im Martinsthaler Weingut Diefenhardt wird immer wieder mucksmäuschenstill. Deutlich spürt man hinter den technischen Kunststücken die Lust am Entdecken, die Freude an Musik als kommunikativem Akt, die Liebe zur Kunst. Hoffentlich bleibt das so.