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Der Landjäger Olim, beim Protokoll von Skrupeln bedrängt (Tomas Möwes mit Chor und Extrachor). Foto: Sabine Haymann
Der Landjäger Olim, beim Protokoll von Skrupeln bedrängt (Tomas Möwes mit Chor und Extrachor). Foto: Sabine Haymann
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Kurt Weills „Silbersee“ als „soziale Skulptur“ am Theater Pforzheim

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Manchen Bühnenwerken ist ihre Entstehungszeit unmissverständlich eingeschrieben. Zu ihnen gehört „Der Silbersee“ von Kurt Weill – eine Art Semi-Opera, der der Komponist und sein Librettist Georg Kaiser in Anspielung auf Heinrich Heine den Untertitel „Ein Wintermärchen“ gaben. Handlung, Text und Musik bieten ein eigenartiges und eindringliches Zeitbild der frühen 1930er Jahre kurz vor der nationalsozialistischen Machtübernahme. Mit der Wiederbelebung des Stücks tun sich die deutschen Theater schwer. Einen bemerkenswerten neuen Versuch hat nun am Theater Pforzheim Intendant Thomas Münstermann gemacht.

Mit der Ballade „Cäsars Tod“, die im Rahmen der Handlung unerwartet kommt, deren Melodie aber bereits im langsamen Mittelteil der Ouvertüre aufscheint, exponierten sich die Autoren 1933 eindeutig: „Cäsar wollte mit dem Schwert regieren, doch ein Messer hat ihn selbst gefällt,“ heißt es düster und eindeutig, als die Harfenistin Fennimore zu freundlicher Tafelmusik aufspielen soll. Als Warnung vor der heraufziehenden Diktatur kam das Stück zu spät. Wenige Tage nach der zeitgleichen Uraufführung in Leipzig, Erfurt und Magdeburg am 18.2.1933 verschwand es von den Spielplänen. Historisch aufschlussreicher sind einige charakteristische Dialogszenen aus der Hand von Weills gewieftem Librettisten. Georg Kaiser, seinerzeit der meistgespielte Dramatiker Deutschlands, heute nahezu vergessen, etabliert darin nicht nur verschiedene soziale Milieus, sondern lässt deren Protagonisten in einer Art innerem Rechtfertigungsdrang wider Willen unbequeme Wahrheiten aussprechen – ein Verfahren, das in der Demaskierung des Bewusstseins durch Sprache und in seiner Synthese von Ernst und Ironie Ödön von Horváths Volksstücken sehr nahekommt.

Da sind die Obdachlosen vor ihren Mooshütten, die symbolisch den Hunger begraben, aber sich dann doch entschließen, ein Lebensmittelgeschäft zu überfallen. Später erleben wir, wie ein Krankenhausarzt ihre aussichtlsose Situation beschreibt, während er mit einer Krankenschwester flirtet. Da sind zwei Verkäuferinnen, die sich über die vorgeschriebene Praxis wundern, noch genießbare Lebensmittel zu vernichten. Ein Landpolizist philosophiert vor seinem schweigenden Kollegen über die Rolle der Polizei als unpolitisches Instrument – ähnlich der Eisenbahn, die Schwarze, Rote und Braune befördert, „und wenn es Grüne gäbe, auch Grüne“. Spätestens hier hätte man im schwarz-grün regierten Baden-Württemberg einen Lacher erwarten dürfen, doch die Passage zieht nahezu unbemerkt am Publikum vorbei. Wie so oft tut sich das Opernpersonal mit gesprochener Sprache schwer. Dabei ist ein ausländischer Akzent nicht das Problem, sondern das fehlende Gespür für Sprachmelodie, Gestus und Pointen – letztlich auch die mangelnde Präsenz in der Rolle. Positives Gegenbeispiel im Pforzheimer „Silbersee“ ist Stamatia Gerothanasi. Die junge griechische Sopranistin lässt schon bei ihrem ersten Auftritt als Fennimore aufhorchen; man hat geradezu den Eindruck, das Publikum wache auf. Und bei „Cäsars Tod“ versteht man fast jedes Wort.

Durchwachsener Anfang

Auch musikalisch beginnt die Pforzheimer Aufführung eher durchwachsen. Florian Erdl, 1. Kapellmeister in Pforzheim, geht die Ouvertüre schnell an, doch anstatt etwas von aufgestauter Aggressivität zu erzählen, wirkt sie eher gehetzt. Die Begleitung der ersten Songs durch das Orchester könnte transparenter und zugleich wirkungsvoller sein. Die Schlüsselszene in der Wachstube verliert an Wirkung und Ausstrahlung einerseits durch die unsichere Intonation in Chor- und Extrachor, andererseits durch die Unterlegung des gesprochenen Monologs mit Instrumentalmusik an Wirkung und Ausstrahlung. Immerhin zitiert Weill hier jene Szene aus Mozarts „Zauberflöte“, in der Tamino Eintritt in den Weisheitstempel begehrt. Olim, den schweigsamen Landpolizisten, der nach dem Überfall der Obdachlosen auf das Lebensmittelgeschäft deren Anführer Severin angeschossen hat, überkommen beim Protokollieren des Vorfalls nämlich Skrupel. Als das Schicksal (bzw. der Wille der Autoren) ihm einen Lottogewinn beschert, quittiert er den Dienst. Obwohl der zynische Lotterieagent (überzeugend: Dennis Marr) ihm in in einem melancholischen Tango rät, das Geld möglichst gewinnbringend anzulegen, kauft er stattdessen ein Schloss und lässt Severin gesundpflegen. Tomas Möwes legt (mit feinem Oberlippen-Bärtchen) die Rolle sehr überzeugend als tragikomische Chaplin-Figur an: Ein kleiner Mann, der durch eigenes Zutun in Umstände gerät, denen er nicht gewachsen ist.

Während Olim seine frühere Identität als Polizeiangehöriger verleugnet, sinnt Severin auf Rache an dem, der sein Bein verletzte und ihn die geraubte Ananas nicht essen ließ. Philipp Werner hat eine regelrechte Rache-Arie zu singen („Erst trifft dich die Kugel“); während er zuvor in lyrischen Passagen weniger überzeugte, kommen Phlipp Werner seine heldentenorale Stimme und Ausstrahlung hier sehr zugute. Weill spielt in dieser Musik an auf das Komintern-Lied seines Kollegen Hanns Eisler. Sucht man in dem anspielungsreichen Stück nach politischen Verschlüsselungen, so kann man Severin als Vertreter der KPD deuten, den Schützen Olim hingegen als Vertreter jener Sozialdemokratie, der mit dem Ende des Kaiserreichs die Staatsmacht recht unerwartet in den Schoß fiel. Oft genug ließen ihre Vertreter auf kommunistische Demonstranten schießen, so etwa beim Altonaer Blutsonntag (17.7.1932) in Hamburg. In den beiden Intriganten Frau von Luber und Baron Laur, die Severin und Olim gegeneinander ausspielen und sich in den Besitz des Schlosses bringen, finden wir dementsprechend die alten Eliten des Kaiserreichs wieder, die sich im „Kabinett der Barone“ des seit dem 1.6.1932 amtierenden Reichskanzlers Franz von Papen wiederfanden. Papen war es auch, der am 20.7.1932 die sozialdemokratisch geführte Landesregierung Preußens per Staatsstreich absetzte.

Behutsam unterstützt durch von Lubers veramte Nichte Fennimore versöhnen sich – eine Wiederverbrüderung der entzweiten Arbeiterparteien vorwegnehmend – Olim und Severin, werden allerdings sogleich von den beiden Adeligen aus dem Schloss vertrieben. Im „Song vom Schlaraffenland“ besingen diese die Rückkehr der alten Zeiten. Stimmlich und darstellerisch zieht Lilian Huynen das Publikum sofort in ihren Bann. Klaus Geber mangelt es ein wenig an sängerischer Durchschlagskraft; den adeligen Dünkel und den preußischen Kommandoton bringt er aber überzeugend zur Geltung. Dass die Regie ihm ein Hitler-Bärtchen verpasst, ist eine historische Unschärfe. Gedacht war wohl eher an den Typus von Papen. Dieser hatte allerdings bei der Uraufführung schon abgewirtschaftet. Spätestens mit der Ernennung Hitlers zum Reichkanzler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg hatte die politische Realität Weills und Kaisers „Wintermärchen“ überholt, und die Mehrheit der Deutschen fühlte einen fragwürdigen politischen Frühling.

Spannend bleibt der „Silbersee“ dennoch, indem er Olims und Severins Scheitern begleitet. Erst wollen die beiden Männer die bekannten Mooshütten der Obdachlosen am Silbersee aufsuchen. Als sie von deren Zerstörung erfahren, suchen sie den Tod im See. Auf dem Weg dorthin begleitet sie allerdings Fennimores Stimme mit einer andeutungsvollen Liedzeile aus ihrem Duett mit Severin: „Wer weiter muss, den trägt der Silbersee.“ Tatsächlich fängt es auf der Bühne, mitten im Frühjahr, wieder an zu schneien, und der See ist so weit zugefroren, dass er die beiden Männer trägt. In aussichtsloser Lage geschieht ein Wunder, ähnlich dem Zurückweichen des Roten Meeres beim Auszug der Israeliten aus Ägypten oder dem Wandeln des Jesus von Nazareth auf dem See Genezareth. Fennimore singt: „Euch entlässt die Verpflichtung, weiter zu leben noch nicht. (...) Ihr entstiegt schon dem Grauen, das noch die Schöpfung durchbricht (...) Berge werden sich glätten, wie dieses Wasser gerann, um euren Fortschritt zu retten, der hier vom Ufer begann.“ Das ist Zuspruch und Prophezeiung zugleich und zitiert den Propheten Jesaja im Alten Testament (Kap. 54 Vs. 10) – mithin ein weiteres wichtiges Bild jüdisch-christlicher Überlieferung. Schon vorher haben Olim und Severin im Straßengraben eine auch im Jahr 2018 bemerkens- und bedenkenswerte Erkenntnis formuliert: „Zorn und Angst, das sind die beiden Leidenschaften, die das Elend anrichten. Der Zorn greift an, die Angst flüchtet. Der Mensch soll aber weder angreifen noch flüchten. Er soll sich auf halbem Wege begegen und auf glatter Ebene nebeneinander hinschreiten...“

„Soziale Skulptur“

Interesannterweise gewinnt die Aufführung bereits im 2. Akt mit der Zuspitzung des Dramas an Klarheit und Intensität – auch im Musikalischen. Und immer mehr spielt sie dabei ihre Stärken aus. Die eine ist seine Anlage als Bürgertheater mit „lebendigem Bühnenbild“. Organistorisch heißt es, dass nach Einweisung in einem Workshop prinzipiell jeder Interessent und jede Interessentin zusammen mit Chor und Statisten auf der Bühne stehen und mit agieren darf. Die fast permanente Präsenz dieses erweiterten Chors in blauen Overalls als „soziale Skulptur“ (Joseph Beuys) auf der Bühne macht das Stück wie einst die Tragödie im antiken Athen zu einer öffentlich beglaubigten Angelegenheit. Dabei schmiegen sich die Menschen im Blaumann der Bühnen-Situation flexibel an. Hinter Severein und seinen vier Leidensgenossen „steht“ buchstäblich die Masse. Später bedrängt sie zugleich mit der Musik den grübelnden Olim, indem sie spitze Stangen auf ihn richtet. Im Schlossgarten markiert sie Pflanzen und zwitschernde Vögel, im Finale schließlich das Dickicht von Bäume, Büschen und Schilf am See, bis sie ganz am Ende durch Abwickeln einer silbernen Folie das Fortschreiten der Männer über die Eisdecke glaubhaft macht. Wie Thomas Münstermann als Ausstatter und Regisseur in dieser ausgedehnten Schlussszene szenische Spannung erzeugt und hält, ist großartig.

Die religiöse Komponente der Handlung

Das gelingt ihm auch, weil er die religiöse Komponente der Handlung ernst nimmt. Fennimore, Frau von Lubers Nichte, kommt als „arme Verwandte“ ins Haus – vielleicht eine dramaturgische Anspielung auf Eduard Künnekes Operette „Der Vetter aus Dingsda“. Doch ihr winkt kein persönliches Glück im Schloss und kein Mitleid; vielmehr soll sie den Schlossherrn Olim verführen und aushorchen. Diesem Auftrag widersetzt sie sich schweigend über alle Schikanen und Erniedrigungen hinweg und wächst immer mehr in die Rolle eines Schutzengels für Olim und Severin hinein – in ironischer Anlehnung vielleicht an eine Passage im neutestamentlichen Hebräerbrief: „Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ Stamatia Gerathanasi beeindruckt nicht nur durch ihren klaren, freundlichen Sopran und ihre gute Diktion, sondern auch durch ihre ausdrucksvolle Mimik und Gestik – bis dahin, dass sie es versteht, einen spontan geforderten „Brötchentanz“ (in Anlehnng an Charlie Chaplins „Bananentanz“ aus dem Film „Goldrausch“ von 1925) und einen „Totentanz“ (wohl auf Kurt Jooss‘ Ballett „Der Grüne Tisch“ von 1932 gemünzt) auf der Bühne so hinzulegen, dass es weder gekünstelt noch peinlich wirkt. Als die Tante sie schließlich aus dem Haus wirft, kontrolliert sie ihren kleinen braunen Koffer: Er enthält nichts außer zwei kleinen weißen Engelsflügeln. Die braucht sie nun, um die beiden Männer vor dem Ertrinken zu retten, und hat bis zum Fall des Vorhangs ein wachsames Auge auf die beiden. Da steht sie wie eine Madonna im Hintergrund – nahe am Kitschverdacht, vor dem sie dann doch der nüchterne See aus blauen Overalls bewahrt.

Ins gängige Weill-Bild passt dieser Schluss, der an Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“ von 1987 denken lässt, natürlich nicht. Aber vielleicht sollten wir im Jahr 2018 mal unser Weill-Bild überdenken. Die „Dreigroschenoper“, von Weill selbst eher als Nebenwerk gesehen, ist nicht das Maß aller Dinge...

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