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Sterben für den Sieg: Derrick Ballard als Flambeau, Alexandra Samouilidou als Napoleon Franz. Foto: © Andreas Etter.
Sterben für den Sieg: Derrick Ballard als Flambeau, Alexandra Samouilidou als Napoleon Franz. Foto: © Andreas Etter.
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„L’Aiglon“ – Deutsche Erstaufführung am Staatstheater Mainz

Vorspann / Teaser

Mit „L’Aiglon“ präsentiert das Staatstheater Mainz einmal mehr eine Opernrarität: Die Erstaufführung eines gemeinsamen Werks von Arthur Honegger und Jacques Ibert aus dem Jahr 1937. Die eindrückliche Geschichte vom unglücklichen Sohn des großen Napoleon Bonaparte führt das Publikum in den Windschatten der Weltgeschichte – und wieder heraus in die beängstigend großen Zeiten.

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Die großen Männer, die Geschichte machten, spuken derzeit durch nostalgiegetriebene Köpfe, und ebenso die großen Imperien von einst. Napoleon Bonaparte war eine dieser überlebensgroßen Figuren. Mit seinen Feldzügen brachte er ganz Europa durcheinander und verheizte Hunderttausende von Menschenleben, warf sich allerdings auch selbst mit seinen Soldaten in die Schlacht. Als charismatischem Anführer lagen ihm viele Menschen zu Füßen, auch nach dem Scheitern. Heinrich Heines Romanze „Die beiden Grenadiere“, 1840 von Robert Schumann vertont, illustriert das eindrucksvoll. Noch Jahre nach seinem Tod in der Verbannung auf der entlegenen Insel St. Helena im Südatlantik errichteten ihm seine Veteranen Gedenksteine. Allein drei waren es auf dem Gebiet der heutigen Stadt Mainz, die von 1792 bis 1814 zu Frankreich gehörte.

„L’Aiglon“ – Produkt einer gelungenen Kooperation 

Am Staatstheater Mainz, das seinen heutigen Standort den napoleonischen Planungen verdankt, widmet man sich mit der deutschen Erstaufführung der Oper „L’Aiglon“ einer vergessenen Gestalt der Weltgeschichte, nämlich Napoleon II., dem einzigen Sohn des großen Imperators, der diesem hätte nachfolgen sollen. „L’ Aiglon“, 1937 in Monte Carlo uraufgeführt, ist das gemeinsame Werk der Komponisten Arthur Honegger (1892–1955) und Jacques Ibert (1890–1960). Derlei Kooperationen waren im Umfeld der „Groupe de Six“ nicht ungewöhnlich, und sie fanden, so die Mainzer Dramaturgin Therese Steinacker bei ihrem Einführungsvortrag, während der Volksfront-Regierung 1936-1939 in Frankreich auch besondere Resonanz – anders als in Deutschland, wo der romantische Geniekult stärker verankert war. Dort benannten Paul Hindemith und Kurt Weill 1929 beide klar ihren Anteil an der Komposition von Bert Brechts Radio-Lehrstück „Der Flug der Lindberghs“ und distanzierten sich nachher von dem gemeinsamen Experiment. Honegger und Ibert dagegen gaben die jeweilige Autorschaft an der „L’Aiglon“-Partitur nicht preis, mit der Folge, dass heute spekuliert wird, die leichteren und eingängigeren Teile (1. und 5. Akt sowie Teile des 3. Aktes) stammten von Ibert und der komplexere Rest von Honegger. Allerdings könnten die musikalischen Unterschiede auch der szenischen Notwendigkeit geschuldet sein, und vielleicht hat überhaupt ein intensiver gegenseitiger Austausch stattgefunden. GMD Hermann Bäumer, dem die Aufführung ein besonderes Anliegen seiner letzten Mainzer Spielzeit ist, empfindet die Partitur als ziemlich bruchlos und organisch, zudem reizvoll in der Instrumentation. So klingt auch das Philharmonische Staatsorchester aus dem Orchestergraben; der Spannungsbogen hält sogar über längere Umbaupausen zwischen den Akten.

Napoleon Franz – ein Leben im Schatten des Vaters

Das Libretto zur Oper stammt von dem französischen Maler, Dramatiker und Dichter Henri Cain, 1857–1937), der schon für Jules Massenet gearbeitet hatte. Als Vorlage diente das Drama „L’Aiglon“ des französischen Schriftstellers Edmond Rostand (1868 – 1918), das sich auf historische Fakten stützte und diese ausschmückte. Im Mittelpunkt steht der „kleine Adler“, Sohn des großen Kaisers, mit vollem Namen Napoleon Franz Joseph Karl Bonaparte. Der Vater hatte ihn schon im Geburtsjahr 1811 als „König von Rom“ zum Nachfolger designiert; aber den Titel „Napoleon II.“ trug er er (als Sechsjähriger) nach dessen Sturz gerade einmal zwei Wochen, bis in Paris mit Ludwig XVIII. wieder ein Bourbone auf den Thron kam. Seine Mutter, die österreichische Kaisertochter Marie Louise, kehrte nach Wien zurück und brachte den Sohn mit. Während sie 1815 Herzogin (im Libretto nur Gräfin) von Parma wurde, wuchs er in Wien auf. Man versagte ihm die Würde eines „Prinzen von Parma“ und ernannte ihn zum „Herzog von Reichenbach“ – ein eher formeller Titel, verbunden mit ein paar kleine Besitzungen in Böhmen mit Sitz im heutigen Zákupy in der tschechischen Region Liberec. Er musste auf die Anrede mit dem französischen Vornamen verzichten und österreichische Uniformen tragen. Für den österreichischen Staatskanzler Metternich, den Architekten der restaurativen europäischen Nachkriegswelt, war er Faustpfand und Druckmittel gegen das bourbonische Frankreich und die anderen europäischen Mächte – was das Opernlibretto der Titelfigur selbst als Erkenntnis in den Mund legt. Infolge der französischen Juli-Revolution von 1830 regte sich dann kurzfristig eine bonapartistische Partei, die Napoloen II. auf den Thron bringen wollte; sie konnte sich aber nicht durchsetzen. Napoleon Franz starb 1832 an der Tuberkulose. Erst sein Cousin Louis-Napoleon kam an die Macht – 1848 als französischer Staatspräsident, dann 1852 (nach Staatsstreich und Volksbefragung) als Kaiser unter dem Namen Napoleon III.

Stationendrama mit Adlerflügeln

Honeggers und Iberts Musiktheater-Version des Stoffes zeichnet das Schicksal des Titelhelden der Vorlage entsprechend als persönliche Tragödie im Windschatten der historischen Ereignisse. Gegliedert ist die Oper nach Art eines Stationendramas. Dessen fünf Akte tragen jeweils eine auf das Bild des Adlers bezogene Überschrift. Der 1. Akt („Die Flügel öffnen sich“), der 1831 in Schloss Schönbrunn spielt, zeigt das erwachende Selbstbewusstsein des jungen und aufgeweckten Napoleon Franz. Er wird durch kleine politische Signale bestärkt. Trotz der Überwachung durch Metternich erfährt er vom französischen Militärattaché, dass unter der Herrschaft des neuen Königs Louis Philippe das Banner der Bourbonen von der revolutionären Trikolore abgelöst wurde. Die Soldatenfiguren, die er für seinen Militärunterricht braucht, sind plötzlich in französischen Farben bemalt. Dahinter steckt sein Kammerdiener Flambeau, ein napoleonischer Veteran, der mit einem prominenten Besucher, dem französischen Marschall Marmont, in Streit gerät, weil dieser sich am Ende von Napoleon abgewendet hat. Marmont rechtfertigt sich mit der allgemeinen Erschöpfung durch den Krieg, wogegen Flambeau den Durchhaltewillen der gemeinen Soldaten hochhält. Flambeau will die gemeinsame Flucht nach Paris organisieren.

Im 2. Akt („Die Flügel schlagen“) hat Flambeau seinem Schützling als Zeichen zur Flucht den berühmten Zweispitz des Vaters hinterlassen. Napoleon Franz steigert sich darüber in Größenfantasien. Metternich entdeckt den Hut und gerät in Panik, fängt sich aber und führt dem jungen Herzog seine habsburgische Abstammung vor Augen: Er müsse mit Erbkrankheiten und Wahnzuständen rechnen. Napoleon Franz zweifelt zunächst stark an seinen Fähigkeiten. Beim Maskenball auf Schönbrunn im 3. Akt („Geschundene Flügel“) fasst er wieder Mut. Die aufkommende Zuneigung zu Thérèse, der neuen Vorleserin seiner Mutter, versagt er sich zugunsten seiner politischen Mission. Die Tänzerin Fanny Elssler verrät ihm den Fluchtplan, und er tauscht mit seiner ihm sehr ähnlichen Cousine den Mantel. Im 4. Akt („Gebrochene Flügel“) haben die Verschwörer es über die Donau nach Wagram geschafft, wo Napoleon 1809 einen großen Sieg über die österreichischen Truppen erzielte. Dort werden sie von den Verfolgern gestellt. Flambeau, der nicht als Aufrührer ausgeliefert und in Frankreich exekutiert werden möchte, wählt den Tod. Napoleon Franz erleichtert ihm das Sterben, indem er ihm bildreich die siegreiche Schlacht ausmalt. Als sich ihm dann aber die Bilder der Toten und Verwundeten aufdrängen, nimmt er Abschied von seinen hochfliegenden Plänen und ist bereit, für die Sache des Vaters auch sein eigenes Leben hinzugeben. Im 5. Akt („Die Flügel schließen sich“) liegt er nach der Krankensalbung im Sterben. Er lässt sich die prachtvolle Kinderwiege ans Totenbett bringen und stirbt, während ihm Thérèse die Lieder aus seiner Pariser Kindheit vorsingt. Metternich, der ruhig im Hintergrund abgewartet hat, ordnet kühl an, dem Verstorbenen wieder die österreichische Uniform anzuziehen.

Eine Partitur zwischen Wiener Walzer und Marseillaise

Oft springen Honegger und Ibert mit ihrer Musik in die Szenen hinein wie in einem Hollywood-Film der 1930er Jahre; ähnlich wirkungsvoll sind die Aktschlüsse. (Was nicht verwundert, denn Hollywood wurde musikalisch von europäischen Emigranten geprägt.) Wiener Walzer, in den 1930er Jahren ein Ausdruck musikalischer Nostalgie, legen sich ironisch über die Szenen am Hofe. Die dramatischen Zuspitzungen im 2. und 4. Akt sind durchzogen von Militärsignalen, Marschfragmenten und patriotischen Gesängen, gipfelnd im ausführlichen Zitat der Marseillaise. Anrührend in seiner Schlichtheit wirkt der Schlussakt mit Kirchengesang im Hintergrund und Kinderliedern auf der Bühne. Insgesamt sind die Singstimmen in einem natürlich wirkenden Konversationston gehalten, der sich gut in den sinfonischen Duktus der Partitur fügt. Indem sie die Partie des „jungen Adlers“ einer weiblichen Sopranstimme anvertrauen, verweisen Honegger und Ibert schon auf die Zerbrechlichkeit der Hauptfigur.

Sensible Inszenierung mit beklemmender Zuspitzung

Auf der Mainzer Bühne gelingt Alexandra Samouilidou mit ihrer eher schlanken Sopranstimme die sensible Charakterstudie eines ebenso wachen wie dünnhäutigen jungen Menschen, der vom welthistorischen Gewicht seiner Familiengeschichte niedergedrückt wird. Den Flambeau, der sich zunehmend zur Vaterfigur entwickelt, legt Derrick Ballard differenziert an; neben ihrem fanatischen Glauben an Napoleon haben die beiden Komponisten der Figur nämlich eine gute Dosis menschlicher Wärme und Witz mitgegeben. Anrührend in ihrer Kombination von Zartheit, Zuverlässigkeit und Zuwendung wirkt Juliette Aleksanyan als Thérèse. (Hätte sich der junge Herzog sich nicht besser diese erwachende Liebe zugestehen sollen als seinen politischen Träumen nachzuhängen?) Besonderen Eindruck hinterlassen außerdem Tim-Lukas Reuter als mit seinem Gewissen ringender Marschall Marmont, Collin André Schöning als französischer Miltärattaché mit Haltung und Daniel Semsichko in der (historischen) Rolle des Grafen Prokesch-Osten als warmherziger Vertrauter des „jungen Adlers“. 15 weitere Rollen sind überzeugend aus dem Ensemble besetzt, Chor und Statisten fügen sich organisch ein. Nur bei Gabriel Rollinson, als Fürst Metternich immerhin der böse Drahtzieher im Hintergrund, wünscht man sich mehr Durchschlagskraft seiner Bassstimme.

Luise Kautz’ Inszenierung zeichnet im Verein mit Valentin Mattkas Bühne und Tanja Liebermanns Kostümen insgesamt überzeugend Aufbruch und Scheitern des Titelhelden nach. Der 1. Akt spielt historisch ziemlich getreu auf Schloss Schönbrunn. Mit den von Judith Selenko gedrehten Videoeinblendungen von Militärkolonnen weitet sich die Szenerie im 2. Akt ins Visionäre. Eindrucksvoll ist die zentrale Szene des 3. Aktes, in der Napoleon Franz auf einer Theaterbühne seine vom väterlichen Anspruch überschattete Kindheit und Jugend vor sich sieht. Leider gelingt es der Regie nicht, diese Episode durch eine einigermaßen glaubhafte Hofball-Atmosphäre zu rahmen. Frappierend wirkt in Kautz’ Deutung der 4. Akt: Die Fliehenden haben es offensichtlich gar nicht aufs Schlachtfeld bei Wagram geschafft, sondern bloß in den „Giftschrank“ des Wiener Hofmobiliendepots, wo in einem großen Raum alle vorhandenen napoleonischen Devotionalien verschlossen sind: unter anderem Napoleon-Büsten, der Heeresadler des Kaisers, die prachtvolle Wiege des Sohns und das große Schlachtenbild von Horace Vernet. Während Worte und Musik diese Schlacht heraufbeschwören und dabei Vernichtung und Patriotismus regelrecht übereinander türmen, kriechen unter Dampf und Rauch mit verletzten Gliedern und zerschossenen Gesichtern aus dem Gerümpel die Verwundeten und Toten des 1. Weltkriegs hervor. Man erinnert sich beklommen: 1937 war die Schlacht von Verdun nur 21 Jahre her, zwei Jahre später begann schon der 2. Weltkrieg. Die Politik der „großen Männer“ und derer, die sich dafür halten, hat eben ihren Preis. Napoleon dem Kleinen bleibt im 5. Akt ein Tod im Würde – mit so viel menschlicher Wärme, wie es die Umstände erlauben. Sanft scheint von links das Licht in den hier viel zu großen Saal, sanft tönen von dort auch die gregorianischen Choräle – untextiert, als schwerelose Melodie.

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