In musicalaffinen Metropolen wie Wien oder Berlin gibt sich auch das Publikum gerne mal betont queer, wenn ein einschlägiger Hit wie „La Cage aux Folles“ auf dem Programm steht. In der Wiener Volksoper ist es schon vorgekommen (bei einer letzten Vorstellung in der Spielzeit etwa), dass die Dragqueens der Stadt in Putz und Fummel gleich in mehreren Ranglogen residierten, die Regenbogenfahne über die Brüstung drapierten und dann auch noch von der Intendantin des Hauses am Ende sozusagen offiziell gegrüßt wurden.
Matthew Wilds „La Cage aux Folles“-Inszenierung am Staatstheater Kassel: Geradeaus aber mit Tempo
So flippig ging es in Kassel bei der jüngsten Premiere des Broadway-Musicals aus dem Jahre 1983 nicht zu. Wenngleich das Publikum auch im Staatstheater aus seiner Sympathie für die Botschaft, die dieses Musical neben und hinter allem Klamauk immer auch transportiert, keinen Hehl machte. Es jubelte zwischendrin bei jeder passenden Gelegenheit und am Ende natürlich ausführlich, allem zu, was es sah und hörte.
Wenn in Kassel, wo Intendant Florian Lutz und auch ein Bühnenbildner wie Sebastian Hannak den Ehrgeiz hochhalten, mit originellen szenischen Zugängen Erwartungshaltungen zu unterlaufen, für eine „La Cage aux Folles“-Inszenierung einen Regisseur wie Matthew Wild eingeladen wird, dann weckt das schon eine gewisse Erwartungshaltung. Zumal sich der Südafrikaner Wild gerade in Frankfurt getraut hat, ausgerechnet aus Heinrich Tannhäuser einen schwulen Schriftsteller zu machen, der in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts in die USA emigriert, und dort nach seinem Outing in den 50er Jahren in den Selbstmord getrieben wird.
Da im Musical auch von den beiden Langzeitpartnern Georges (souverän: Livio Cecini) und Albin (mit Staraplomb: Adrian Becker) das heteronormative Familienleitbild adaptiert und (erfolgreich) praktiziert wird, haben die beiden und ihr Umfeld natürlich die allgemeinen Sympathien auf ihrer Seite, wenn der Provinzpolitiker Dindon (Bernhard Modes) seine schwulenfeindlichen Sprüchen klopft. Georges Sohn Jean Michel (Merlin Fargel) will dessen Tochter Anne (Leonie Dietrich) heiraten. Komödienkompatibel wollen Dindon und seine Gattin (Ingrid Frøseth) einen Kennlernbesuch bei Jean Michels vermeintlich „normaler“ Familie machen. Deshalb wird auf Jean-Michels feiges Drängen hin von der Wohnungsdekoration alles, was auch nur entfernt nach nackten Kerlen aussieht, ausgelagert und durch ein schlichtes Kruzifix ersetzt.
Die Bühne (Sebastian Hannak) bleibt dabei an der Grenze zur Nüchternheit. Auch Jacquelines (Clara Hendel) Edelrestaurant hätte einen Schuss mehr vertragen. Andererseits erzählt Wild die Geschichte zwischen den Auftritten Albins im Travestienachtclub als Zaza mit großem Feder-Kopfschmuck zum silbernen Glitzerkleid und dem mehr oder weniger bürgerlichen Familienleben des Künstlerpaares und seiner männlichen Zofe Jacob (wunderbar überdreht: Fausto Israel) sozusagen geradeaus und nimmt die Geschichte als Botschaft, die für sich steht, immer noch aktuell ist und schon deshalb keiner Überhöhung oder Hinterfragung bedarf.
Was bleibt, sind Tempo und Esprit für das betont genderfluide Ballett, für die wunderbar affektierte Hysterie von Jacob oder die demonstrativ überdehnten Schwulenklischees bei Albin. Zu einem Kabinettstück wird natürlich der Versuch, ihm einen Heterohabitus a la John Wayne beizubringen, damit er wenigstens als Onkel am Familientreffen teilnehmen kann. Adrian Becker läuft in jeder Albin-Facette zur Hochform auf. Am berührendsten ist er allerdings, wenn er spontan die leibliche Mutter Jean Michels spielt, weil die plötzlich abgesagt hat. Als Jacob den Braten anbrennen lässt und alle ins Restaurant zu Jaqueline umziehen, kommt es zum Eklat, als sich Albin bei einem Lied, das er zum Besten gibt, in der Euphorie die Perücke vom Kopf reisst und damit selbst den ganzen Schwindel auffliegen lässt. Am Ende retten die Schwulen den Reaktionär, vor der Bloßstellung in der Presse, indem sie ihn zum Teil ihrer Show machen. Eine Pointe, die mehr in die Rubrik „Privat geht vor Katastrophe“ gehört und der Stücklogik entspricht, als der Wirklichkeit in die Quere kommt.
Im Ganzen funktioniert der Käfig voller Narren immer noch. Schon, weil die Musik zündet und mitreist. Dafür sorgen Peter Schedding, das Staatsorchester Kassel und das fast völlig aus Gästen bestehende Ensemble. Ob wirklich die im Käfig die Narren sind, oder die anderen, das ist eine Frage, die man kostenlos mit nach Hause nehmen kann.
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