Seit zehn Jahren leitet Nike Wagner das spätsommerliche Kunstfest „Pelerinage“ in Weimar, der Stadt Goethes, Schillers und ihres Ururgroßvaters Franz Liszt. Sie ist auch Urenkelin Richard Wagners und hatte nun zum letzten Mal die zweiwöchige „Pilgerfahrt“ der Künste und der Künstler anzutreten. Das heißt, bei all ihrer dramaturgischen Neugier, fürs Programm: Zusammenhänge herstellen, Verbindungen des Alten mit dem Neuen finden, die Sparten gesamtkunstwerkhaft zusammendenken -– Musik und Tanz, bildende Künste und Performance, Literatur und Film, dazu Lesungen, Round Tables. Und da die historische Erinnerung Weimars nicht nur klassisch leuchtet, vielmehr politisch düster ist, hat Nike Wagner ihr Kunstfest stets mit dem „Gedächtnis Buchenwald“ eröffnet: Das Konzentrationslager der Nazis befindet sich auf dem nahe gelegenen Ettersberg. Die Schriftstellerin und Holocaust-Überlebende Ruth Klüger hielt die Gedenkrede.
Zum Finalissimo wurden noch einmal jene Künstler nach Weimar gebeten, die in den Jahren von 2004 bis 2013 „Artists in residence“ waren – zum Marathonkonzert mit so hochkarätigen Musikern wie Tabea Zimmermann, Marino Formenti und Markus Hinterhäuser, Carolin und Jörg Widmann, András Schiff und Gidon Kremer. Und doch bedeutete der Auftritt des Komponisten Salvatore Sciarrino als Dirigent seines eigenen, Wagner radikal leugnenden, Musiktheaters „Lohengrin“ einen eigenen Höhepunkt künstlerischer Autonomie. Die Wagner-Kritikerin Nike Wagner distanzierte sich damit vom Kult um den 200-jährigen Komponisten.
Salvatore Sciarrino, Sizilianer des Jahrgangs 1947, der markanteste Komponist Italiens in der Generation nach Luigi Nono und Luciano Berio, besitzt eine sehr eigene Handschrift, seine Stücke erschaffen eine reduzierte Klangwelt des verdichtet Imaginären. Sein Monodram „Lohengrin“ für Stimme, Instrumente und Chor von 1982-–84 nennt Sciarrino „Unsichtbare Handlung“. Diese basiert auf einem esoterischen Text des früh gestorbenen französischen Symbolisten Jules Laforgue. Daraus macht Sciarrino reines Klangtheater: Die symbolistische Geschichte um den märchenhaften Gralsritter entpuppt sich als Elsas Traum, also Elsas Albtraum. Denn im Mittelpunkt der Phantasmagorie steht das schizophrene Erleben der vergeblichen Liebe nur einer Person, die Qual des Scheiterns.
Sciarrino reduziert die Erzählung radikal, er baut sie fragmentarisch neu auf in virtuosen Stimm-, Sprech-, Klangaktionen einer einzigen Solistin. Die argentinische Sopranistin Lia Ferenese beherrscht die vokalen Manipulationen von Ton und Geräusch, sie erfüllt die Klangpoetik eines Komponisten, der einmal sagte: „Ich schreibe nicht Musik, ich schreibe psychologische Erfahrungen nieder.“ Elsas sperriger Traum verwirklicht sich in rein vokalen Kleinst-Monodramen, winzigen Klangszenen aus dem Avantgarde-Arsenal von Atmen, Flüstern, Gurren, Keuchen, Schnalzen bis hin zu Singen, Rufen, Schreien, angesiedelt zwischen Stille und Ausbruch. Alle Äußerungen des Intimen, der Lust, der Erwartung, Bestürzung, Angst und Panik – bis hin zu jähen Lachanfällen – werden in Charaktermomente überführt. Am Ende tönt ein liedhaft-einfacher Gesang, zur Feier desolater Einsamkeit. Die Aktionen dreier chorischer Stimmen und einer 15-köpfigen Instrumentalgruppe (ensemble recherche) dienen dem Anspruch der Komposition, dass „Klänge ihr eigenes Bild“ liefern. Sensibilisierung des Hörens ist die erklärte Absicht des Komponisten, der angereist war, um sein Stück im Weimarer E-Werk, einem dem Nationaltheater als Spielstätte dienenden Industriegebäude, einzustudieren und zu dirigieren: Mit geringem körperlichen Aufwand, einer Leichtigkeit in Geist und Geste, doch umso ruhigerer Konzentration und Präzision, führte Sciarrino klug durch seine „Lohengrin“-Phantasmagorie. So wie Nike Wagners intellektuelle Interessen und ihr hochfliegender Kunst-Ehrgeiz dem „Pelerinage“-Festival von Weimar zehn Jahre lang dienten, dürften ihre Prinzipien wohl auch dem Bonner Beethovenfest gut tun, das sie ab 2015 leiten wird.