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Alcina. Foto: © Patrick Berger
Alcina. Foto: © Patrick Berger
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Mittelfristig sind wir alle alt – Katie Mitchells Deutung von Händels „Alcina“ beim Festival d’Aix-en-Provence

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Vielleicht schwebte der britischen Regisseurin Katie Mitchell ein Bonmot ihres Landsmannes John Meynard Keynes vor. Meinte der berühmte Ökonom doch in einer Mischung aus Weisheit und britischem understatement, dass wir auf lange Sicht alle tot sind. Ihre „Alcina“, mit der jetzt das wichtigste französische Musikfestival in Aix-en-Provence eröffnet wurde, spielt immerhin die These durch, dass wir mittelfristig alle alt sind.

Und weil Mitchell und ihre kongeniale Bühnenerfinderin Chloe Lamford aus der Zauberinsel der männerverwandelnden Schwestern Alcina und Morgana ein zweistöckiges Gespensterhaus gemacht haben, das mit der Magie und Präzision einer opulenten Bühnenillusion spielt, war es auch gut, dieses populäre Händel-Opernschmuckstück ins neue, über 1300 Plätze fassende Grand Théâtre de Provence zu verlegen, das vor einigen Jahren von Simon Rattle mit Wagners Ring sozusagen seiner Bestimmung übergeben wurde. 

Was natürlich musikalisch nicht ganz ohne Konzessionen an die puren Dimensionen zu haben ist. So füllte das Freiburger Barockorchester, als aktuelles Orchester in Residenz, unter seinem Dirigenten Andrea Marcon in ziemlich großer Besetzung den Graben und setzte auf einen eher süffig eleganten Ton, als auf den barocken Furor mit seinen fröhlich knarzenden Hörnern, die vor allem die Bravourarien zu einem Hochgenuss machen. Ein bisschen mehr Zirkusnummer und Rampenfeuerwerk für die Stars dürfte es ruhig sein, wenn Barockhits aus den prominenten Kehlen der Zunft kommen. 

Diesmal dominieren also weniger die exzellenten Interpreten mit der großen Geste den Abend, als vielmehr ein geschlossenes, atemberaubend spannendes szenische Konzept. Bei dem geht es um ein Spiel mit den Obsessionen, der Gier nach Lust und Leben und der Verzweiflung über das unausweichliche Dahinschwinden der Jugend, das vor allem die beiden Zauberschwestern befallen hat und am Ende in die Museums-Vitrinen verbannt, in denen sie selbst ihre in Tiere verwandelten Männer (oder die Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht haben) ausgestellt hatten.

Das Zentrum der Bühne ist ein nobler Salon so zwischen Schlafzimmer für den Rosenkavalier und Präsidentensuite im Luxushotel. Es ist der Wirklichkeit gewordene Raum der Erinnerung von zwei deutlich in die Jahre gekommenen Frauen, die auf der Bühne tatsächlich von zwei älteren Schauspielerinnen (Juliet Alderdice und Jane Thorne) verkörpert werden. Wenn diese beiden ihre Privatzimmer verlassen und von rechts oder links in den Salon wechseln, dann fallen die Jahre von ihnen ab und sie sind jedes Mal die beiden jungen attraktiven Schwestern, die das riesige Bett für ihre diversen Vorlieben nutzen.

Morgana steht auf Sado-Maso Spielchen, was Anna Prohaska mit so rückhaltlosem Einsatz zeigt, dass sie dabei den bieder braven Eindringlingen Melisso (Krzysztof Baczyk), aber auch Ruggieros Braut auf Befreiungsmission Bradamante (mit vollem Mezzo: Katarina Bradic) und so manchem Zuschauer die Schamesröte ins Gesicht treibt. Ihre große Schwester Alcina überraschen wir da zuerst mit ihrem jungen Liebhaber Ruggiero. Patricia Petibon übertrifft sich als Alcina in jeder Hinsicht selbst, geht vor allem beim Ausgestalten der Verzweiflung weit über die Grenzen der barocken Stilisierung hinaus. Dass das Begehren aber auch die Verlustangst dieser Frau so glaubwürdig rüberkommt, liegt daran, dass Counterstar Philippe Jaroussky dieser Ruggiero, also diesmal tatsächlich ein attraktiver Mann, ist, was jede Hosenrollenpeinlichkeit erspart. 

Dieser permanente Wechsel des Lebensalters ist ein faszinierender Trick, um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, oder umgekehrt, durchzuspielen. Katie Mitchell zeigt die Trauer um die verlorene Jugend und sexuelle Attraktivität bei den fahlen Alten ziemlich erbarmungslos. Sie kitzelt aber aus den jungen Frauen im wahrsten Wortsinn jede erotische Konnotation von Bravourarien und Koloraturen heraus. Was wir da zu sehen und zu hören bekommen, ist eine permanente Suche nach dem K-Punkt, also nach der Stelle, wo man nicht mehr anders kann, als die Koloraturen, als Laute der Lust zu hören. Und zu sehen.

In diesem gespenstischen Zauberhaus gibt es aber nicht nur die geheimnisvollen Vitrinen mit den ausgestopften Tieren, sondern im Obergeschoss auch jenes Laboratorium, wo diese Umwandlung vollzogen wird. Da werden die aussortierten Männer (und dann auch Bradamante) auf ein Förderband gelegt und durch einen Apparat (der an die Gepäckdurchleuchtung auf dem Flughafen erinnert) geschickt und kommen hinten als Vierbeiner oder im Falle von Bradamante als Vogel, wieder heraus. Zum Glück für Bradamante und den Vater des Knaben Oberto (der Tölzer Sängerknabe Elias Mädler singt ihn hervorragend) funktioniert dieser Apparat auch andersherum. Und es ist wohl besser für den Rest der ausgestellten Tier-Präparate, dass die Sprengsätze, die Melisso und Bradamante angebracht haben, um dem ganzen Spuk ein Ende zu machen, von den Angestellten unter Leitung Orontes (Anthony Gregory) wieder demontiert und auch im Erdgeschoss nicht gezündet werden.

Das Finale dieser atemberaubend spannend in Szene gesetzten Gruselstory übers Altwerden und -sein, ist also nicht der große Knall, mit dem die Insel der Alcina versinkt, sondern ein ganzes Bündel der sprichwörtlichen offenen Fragen … Ist das Alter so zum Verzweifeln, dass man sich dem nur mit Zauberei und mehr als 50 Shades of Grey entgegenstemmen kann? Fällt den Jungen nichts Besseres ein, als die Alten, respektive das Alter einfach wegzusperren? Aber auch ob Ruggiero und Bradamante noch eine Chance haben, nach der Erfahrung die sie gemacht haben, ist nicht sicher. Es sieht jedenfalls nicht danach aus. Täuscht es, oder sind die beiden schon in Streit geraten, wie sie mit dem Verwandlungslabor umgehen werden? Wir entkommen Katie Mitchells Gespensterhaus wieder. Und nehmen nur die offenen Fragen mit, wie es wohl weitergehen könnte. Nicht das Schlechteste, was man über eine gleichwohl beglückende Händelinszenierung sagen kann …

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