„Mut zur Erneuerung“ verkündet das Motto des 27. Kurt-Weill-Festes in Dessau-Roßlau. Gemeint ist damit in erster Linie die Rückbesinnung auf den Geist der Jahre 1925 bis 1932, als das Bauhaus seinen Sitz in Dessau hatte. Dessen Erbe wird in der Stadt an der Mulde inzwischen sehr bewusst gepflegt. Als Höhepunkt der Jubiläumsveranstaltungen zum 100-jährigen Bestehen des 1919 in Weimar begründeten Instituts sieht man der Eröffnung des neuen Bauhaus-Museums im September entgegen. „Mut zur Erneuerung“ lässt sich aber auch auf die Gegenwart beziehen.
Die prominent platzierten Großveranstaltungen des ersten Festival-Wochenendes muten allerdings an wie eine deutliche Rolle rückwärts. Den Beginn macht im Anhaltischen Theater das Gastspiel einer 2017 in Prag uraufgeführten Kurt-Weill-Revue, die die Opernsängerin Dagmar Pecková entworfen hat. (Regie führten Michal und Šimon Cabani). Auf dem Programm stehen Weill-Songs, die seit Jahrzehnten herauf- und heruntergespielt werden, dazu ein paar etwas weniger bekannte. Unter einer Art Zirkuszelt tragen Pecková und ihr Kollege Jirí Hájek die Lieder mit darstellerischem Charme, aber ziemlich eindimensional vor; von Doppelbödigkeit und Ironie ist kaum etwas zu spüren. Dazu kommen Hintergrundtänzerinnen und -tänzer und noch weiter hinten schlecht gewählte und schlecht sichtbare Dokumentarfilmsequenzen. Statt Weills Originalinstrumentationen erklingen (handwerklich sehr gelungene) Bearbeitungen für Unterhaltungsorchester, die der Pianist und Dirigent des Abends Jan Kucera angefertigt hat. Zwar gibt es eine schöne Akrobaten-Szene und munter swingende Einlagen der Mirouslav Hloucal Jazz Band, doch das Gesamtarrangement torpediert Weill zurück in die Welt des Schlagers, die er durch seinen Songstil mit Erfolg zu unterwandern begonnen hatte.
Getragen ist das Programm von der Absicht, Weill „auch den tschechischen Zuhörern und Zuschauern näherzubringen“. Und so versucht Frau Pecková im Rahmen des Abends eine biographische Skizze, die durch etliche Falschaussagen überrascht. Nein, Weill hat die Oper nicht „so lange reformiert, bis er im Schauspiel gelandet ist“, sondern er hat bis zu seinem Tod 1950 mit den verschiedensten Formen von Musiktheater experimentiert und mit „Street Scene“ 1947 ausdrücklich eine „amerikanische Oper“ geschrieben, die zahlreiche Elemente der europäischen Operntradition wieder aufgreift. Nein, er hat sich nicht mit seiner Frau Lotte Lenya 1933 in den Zug von Berlin nach Paris gesetzt, sondern sein Freund Caspar Neher hat ihn mit dem Auto über die Grenze gebracht, während Lenya, mit der er in Scheidung lebte, in Berlin blieb. Ja, er hat Deutschland nach dem Krieg nicht mehr besucht, aber er hat nach dem Krieg auch nur eine einzige kombinierte Europa-Israel-Reise gemacht und dachte noch 1950 durchaus über eine Deutschland-Reise nach.
Ute Lemper, die diesjährige Artist-in-Residence, beweist einen ähnlichen Grad von Unwissenheit, als sie beim Abend „Sweet Dreams“ von der Bühne herab die „180°C-Grad-Drehung“ beklagt, die Weill in den USA vorgenommen habe, und dann wie zum Beweis mit der Anhaltischen Philharmonie unter GMD Markus L. Frank mühsam durch ein kitschig aufgedonnertes, verdicktes und verlangsamtes Arrangement des „September Songs“ rudert, in das ein ungenannter Bearbeiter auch noch Erik Saties „Gymnopédie“ Nr. 1 hineingeflickt hat. Die Ehre der Festival-Residenz indessen ist sicher nicht unverdient. Schließlich hat Frau Lemper die Weill-Renaissance in den 1980er und 1990er Jahren maßgeblich mitgetragen, und sie berichtet beim Festival-Café auch authentisch und eindringlich davon, wie schwierig es für sie war, als junge Weill-Interpretin in den USA mit der Last der deutschen Geschichte umzugehen.
Intensiver noch schildert sie ihre unerwartete Begegnung mit Marlene Dietrich, aus der 30 Jahre später das aktuelle Programm „Rendezvous with Marlene“ entstand. Letzteres konnte ich leider infolge einer Terminüberschneidung nicht miterleben. Lemper erwähnte, dass es ihr sängerisch schwer falle, innerhalb weniger Tage von der tiefen „Marlene“-Lage für „Sweet Dreams“ in die Originallage der Lieder von Weill, George Gershwin und John Kander zu wechseln. Tatsächlich ist ihr auf der Bühne die Anstrengung stimmlich und mimisch anzumerken. Gegen eine Tiefertransposition, wie sie Lotte Lenya in späteren Jahren praktizierte, wäre schwer etwas einzuwenden. Eingeleitet wurde der Abend durch die Anhaltische Philharmonie unter Leitung von GMD Frank mit einer sinfonischen Suite aus Weills Stück „Der Silbersee“. Das ausdrucksvolle und prägnante Spiel des Dessauer Orchesters dürfte niemand überhört haben; davon, dass diese Musik ein Kondensat der Atmosphäre zur Jahreswende 1932/33, also am Vorabend der nationalsozialistischen Machtübernahme, ist, erfuhr niemand, der es nicht ohnehin schon wusste.
Dass das Festival die wenigen vorhandenen Weill-Raritäten im Programm deutlich „unter Wert verkauft“, wäre ein vermeidbares Ärgernis. Da erklingt doch tatsächlich am letzten Fest-Wochenende im DB-Werk Dessau in einer riesigen Montagehalle für Lokomotiven eben jene Musik, die Weill zu den Eisenbahn-Vorführungen auf der New Yorker Weltausstellung 1938 (und einer Zweitaufführung 1940) schrieb – zwar nicht in der Originalfassung, aber doch in einer von dem Weill-Experten David Drew zusammengestellten Suite. Opernchor, Anhaltische Philharmonie sind nicht nur malerisch vor eine große E-Lok platziert, sie legen sich unter Leitung von GMD Frank auch 17 Musiknummern lang mit Können und Leidenschaft ins Zeug; doch außer 17 mageren Satzüberschriften erfährt das Publikum im Programmheft nichts über Inhalt, Text und Bedeutung der Musik. Dabei wäre allein schon Weills bewusster Rückgriff auf afroamerikanische Spirituals das Nachdenken wert. Komplettiert wird der bemerkenswerte Abend durch drei Sätze aus Gustav Holsts Suite „Die Planeten“ und Alexander Skrjabins monumentale sinfonische Dichtung „Le Poème du feu“ op. 60, zu der die Medienkünstler Guido Petzold und Egbert Mittelstädt die von Skrjabin gewünschten Beleuchtungseffekte mit modernen Mitteln an Hallenwände und -decke projizieren. Joseph Moog spielt den schwierigen Klavierpart in dichter Abstimmung mit dem Orchester. Hier lässt sich die Festival-Regie tatsächlich vom eigenen Motto inspirieren.
Wie so oft in Dessau, gibt es Beachtliches bei den kleineren Formaten zu entdecken. Da sind die Studierenden der Leipziger Musikhochschule, die mit einer Violine und acht Celli in einem organisatorisch etwas überfrachteten Wandelkonzert ein gelungenes musikalisches Zeitbild der frühen 1920er geben. Da sind die sieben Mitglieder des Stimmorchesters Hannover, die in der Marienkirche tatsächlich Weill-Kompositionen als Grundlage für abwechlsungsreiche Vokalimprovisationen „ohne Netz und doppelten Boden“ nehmen. Auf großes Publikums-interesse stößt das Programm „Wir atmen Bauhausluft“ auf der Bauhausbühne, bei dem der Weill-Experte Jürgen Schebera, die Sopranistin Stefanie Wüst und der Pianist Reinhard Schmiedel den facettenreichen musikalischen Aufbruch der frühen 1920er Jahre in sorgsam ausgefeilten Interpretationen, in Bild- und Tondokumenten lebendig werden lassen.
„Bauhaus“ und Musik, das war keine direkte Verbindung. Das Stadtarchiv Dessau hat zum Festival eine vierseitige Druckschrift mit Originaldokumenten herausgebracht. Sie zeigt, dass die innovativen Tendenzen im Dessauer Musikleben um 1930er herum einerseits auf die Theaterleitung, andererseits auf den Kreis der Freunde des Bauhauses zurückgingen. Letztere planten für den Herbst 1931 sogar einen Konzertabend mit Kurt Weill. Er kam nicht mehr zustande. Die Nationalsozialisten wurden im Oktober 1931 stärkste Fraktion im Dessauer Stadtrat. Das Bauhaus geriet unter politischen Druck von rechts und musste 1932 schließen. Wie umstritten die künstlerische Moderne war und welcher Hass ihr in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft entgegenschlug, daraus wäre auch für heute zu lernen, doch es wird in der Jubel-Stimmung von „100 Jahre Bauhaus“ gerne übersehen; auch das diesjährige Weill-Fest macht hier keine Ausnahme.
Jan Henric Bogen, der als neuer Intendant das kommende Festival verantwortet, hat als Motto für 2020 die Frage „Was sind Grenzen?“ ausgerufen. Das ist mutig in einer Stadt, in der die AfD das politische Klima zunehmend mitprägt, aber sicher im Sinne Weills, der es als Aufgabe des Musiktheaters beschrieb, die großen gesellschaftlichen Fragen auf die Bühne zu bringen, und dies ab den späten 20er Jahren auch immer wieder tat – bis hin zu seinem letzten vollendeten Bühnenwerk „Lost in the Stars“, das die Rassentrennung in Südafrika thematisierte, aber damit natürlich auch auf die Situation in den USA zielte.
„Lost in the Stars“ ist in Deutschland kaum bekannt. Es wäre – im Prinzip – eine lohnende Aufgabe für das Anhaltische Theater, das 2019 gerade einmal die Wiederholung der letztjährigen „Dreigroschenoper“ zustandebrachte. Doch man muss nur die aktuelle Saisonbroschüre lesen, um zu wissen, auf welch schmaler finanzieller und personeller Basis das traditionsreiche Haus inzwischen agiert. Und dann gibt es immer noch ein diplomatisches Problem: Die Verständigung zwischen der Festival-Intendanz und der Kurt-Weill-Foundation in New York. Die Vorstellungen liegen offensichtlich immer wieder weit auseinander. Wie sagt Lucy, die Tochter des Polizeichefs Tiger Brown, angesichts ihrer Rivalin Polly in der „Dreigroschenoper“ so schön zum Räuber Macheath? „Ich liebe dich so sehr, dass ich dich fast lieber am Galgen sehe, als in den Armen einer anderen.“ Wem der Bühnenkomponist Weill jenseits von „Dreigroschenoper“ und „Mahagonny“ ein Anliegen ist, der sollte Kompromisse schließen.