Eigentlich umweht die Oper ja immer ein Hauch von Ersatz-Therapie. Bei all dem, was da so passiert auf der Bühne. Beim Versuch ein Mensch zu werden, eine Beziehung zu retten, die Seele zu verkaufen, um reich zu werden oder mit den verführten Frauen ins Guinnessbuch zu kommen oder das Spiel von Intrige und Verwechslung am Ende unbeschadet zu überstehen. Auf der Bühne den Traum oder Alptraum des Lebens zu erleben, macht den Reiz des Genres aus.
Und wenn das in den milden Sommernächten der Provence im Festsspielmodus passiert – umso besser. Bernard Foccroulle hat seinen vorletzten Jahrgang als Intendant des Musikfestivals in Aix-en-Provence entlang dieser Möglichkeiten programmiert. Die Premierenserie hat er mit einer Uraufführung begonnen und mit einer barocken Ausgrabung abgeschlossen.
Mit George Benjamins „Written on skin“ hatte Foccroulle vor fünf Jahren einen Volltreffer gelandet, den er ruhigen Gewissens nach London und Paris weiterreichen konnte. Diesmal ging der Auftrag an seinen belgischen Landsmann Philippe Boesmans (81). Dessen Strindberg-Kammeroper „Fräulein Julie“ bringt es inzwischen auch schon mal auf mittlere oder kleine Bühnen, ohne, dass die große Berührungsängste mit einer Novität zu überwinden hätten.
Philippe Boesmans: „Pinocchio“
Bei der Wahl des Stoffes für seine jetzt uraufgeführte Oper „Pinocchio“ dürfte sogar eine bewusste Hinwendung zum Publikumsformat „für die ganze Familie“ ausschlaggebend gewesen sein. Bei der Premiere waren denn auch auffallend viele der über 1300 Plätze im Grand Théâtre de Provence den jüngsten Zuschauern vorbehalten. Ob die freilich Feuer fürs nachwuchsbedürftige Genre gefangen haben, daran darf man nach diesem Abend mit jeder Menge hausbackene Zeigefingerpädagogik zweifeln. Ausstatter Éric Soyer hat sich auch noch auf ein düster dräuendes Schwarz-Weiss Ambiente verlegt, bei dem die gute Fee als eine überlebensgroße Königin der Nacht in blendendem Weiß (in der Marie Eve Munger die in doppeltem Wortsinn hohen Koloraturen sicher bewältigt) optisch das Aufregendste war, was es zu sehen gab. Der Rest blieb sparsam depressiv. Der einsame Baum der in der Finsternis abknickt und das Stück Holz liefert, in dem der verborgene Pinocchio brüllt, als ihn die Kettensäge trifft. Der Start der Holzpuppe ins Leben und die Umwege zur Schule, auf die ihn finstere Gestalten locken, der Versuch gleich auf direktem Wege reich zu werden, all das bleibt so dunkel wie früher die Schultafeln oder heute ein Bildschirm, wenn ihn ein Virus lahmgelegt hat. Cloé Briot übernimmt mit sicherem Sopran das Bühnenleben der Holzpuppe. Das eigentliche Problem war, dass der Librettist Joel Pommerat auch Regie geführt hat. Und dass der eine dem anderen nicht mit dem Rotstift dazwischen gegangen ist. Es wird (zu) viel gesprochen an diesem lange zwei Stunden währenden Abend. Stéphane Degout darf in aller Ausführlichkeit als Conferencier erklären und die Moral von der Geschichte Schritt für Schritt zusammenfassen. Dass Pinocchio ein Esel wird, da er nicht in der Schule war etwa. Und wie schnell man im Kittchen landet, wenn man den falschen Leuten folgt. Und natürlich kriegt man eine lange Nase, wenn man lügt….
Die Musik Boesmans bewegt sich frei durch die vornehmlich französische Musikgeschichte und zielt weniger auf außergewöhnliche Originalität, sondern dient bewusst und melodiös durchwebt der linear nacherzählten Geschichte und den Stimmen. Dafür bietet das Klangforum Wien unter Emilio Pomarico genau das richtige Maß an Präzision und Sinnlichkeit. So kommt wenigstens aus dem Graben akustisch Licht in die Düsternis der Szenerie, die auch von ein paar Auftritten der Bühnenband aus Jazz-Saxophon, Geige und Akkordeon und einigen improvisierten Sequenzen aufgehellt wird.
Francesco Cavalli: „Erismena“
Am Ende der Premierenserie wurde Francesco Cavallis (1602–1676) Erismena, dessen Musik noch Monteverdi verpflichtet ist, aber schon zur Arien-Dramatik Vincis oder Händels drängt mit der Cappella Mediterranea unter Leonardo García Alarcón und einem jungen Protagonisten-Ensemble zum puren Vergnügen. Dazu die gekonnt sparsame Inszenierung von Jean Bellorini im archaischen Ambiente eines Himmels aus Glühbirnen und einer riesigen Spielfläche auf einem Drahtrahmen. Der kann auch schweben und sich aufrichten für die Intrigen-Geschichte, bei der es einem Inkognito-Gefangenen erst ans Leben geht und der sich dann als Tochter des rachsüchtigen Herrschers entpuppt. Hier können sich mit Jakub Józef Orlinski (Orimeno), Carlo Vistoli (Idraspe) und Tai Oney (Clerio Moro) gleich drei vielverssprechend Counter in einem vokal originellen Ensemble profilieren. Ein hübsches Ausrufezeichen zur Premierenwoche im dafür wie gemachten Théâtre du Jeu de Paume.
Aber heuer war es nicht der Ausgrabungs- oder Uraufführungsehrgeiz, das ausgedehnte Koproduktionsnetzwerk, das vielen Festspielproduktionen ein europäisches Nachleben (inklusive einer Rückkehr nach Südfrankreich) ermöglicht oder der pädagogische Stolz, der auf den Besetzungszetteln mit dem Hinweis auf die Akademie des Festivals verweist, mit der man seit Jahren bewusst den Nachwuchs der Branche fördert, was den besonderen Charme dieses Festivals ausmacht.
Georges Bizet: Carmen
Diesmal überstrahlt der Opernblockbuster schlechthin den Jahrgang. Denn ausgerechnet Bizets „Carmen“ zog das Publikum in seinen Bann. Dabei gab es kein einziges Klischee aus dem erfundenen Opern-Spanien. Dafür mit Stéphanie d’Oustrac und mit Michael Fabiano eine exzellente Carmen und einen Don José, der ohne viel Maske den neuen Präsidenten Macron doubeln könnte und seine Versetzung in den Mittelpunkt der Geschichte mit einer schauspielerischen Glanzleistung mehr als überzeugend bewältigt!
Bei dem russischen Regisseur Dmitri Tcherniakov könnte das Ganze nämlich auch „Don José“ heißen. Er macht die operninhärente Therapie zu seinem Thema! Am Anfang gibt‘s noch kleine Zweifel. Nicht an der mit szenischer Komik durchsetzten Machart, aber doch an der Stringenz der erzählten Geschichte. Am Ende sitzt man mit angehaltenem Atem auf der Stuhlkante im Grand Théâtre de Provence. Und zwar nicht nur wegen Pablo Heras-Casado und dem durchweg fabelhaften Orchestre de Paris. Wegen einer Beziehungskrise verdonnert Micaëla (ohne eine Spur von Landei und mit Selbstbewusstsein: Elsa Dreisig) ihren Ehemann zu einer Therapie. Im Foyer der Nobelklinik (Tcherniakov verantwortet auch seine Bühnenbilder) hat er in den Teilnahme-Bedingungen unterschrieben, dass er als José mitspielt. Er wird es mit der Zeit tatsächlich. Weil er nicht nur in den Abgrund seiner Seele geschaut hat, sondern hineingestürzt ist. In der großen Ballettszene vor dem Stierkampf wiederholt sich diesmal der Anfang der Geschichte mit der Ankunft eines neuen Don José, der Vertragsunterzeichnung, der Ausstattung mit dem Namensschild, dem Auftritt des Leiters und seine Cheftherapeutin im Schnelldurchlauf. Etwas surreal der „richtige“ José taumelt durch diese Szene und auf eine Katastrophe zu. Bei der gibt es dann zwar keine Toten (bei den Gruppensitzungen gibt es nur Theaterdolche mit beweglicher Klinge und auch den, den ihm Carmen reicht, ist so einer) aber eine von Selbstzweifeln erschütterte Therapeutin Dr. Carmen, eine schockierte Ehefrau und einen jetzt wirklich behandlungsreifen José. Danach muss man erstmal durchatmen!
Igor Strawinsky: „The Rake’s Progress“
Dieser szenisch musikalische Festspielhöhepunkt war unterm freien Himmel des Théâtre de l’Archevêché weder von Simon McBurney mit Igor Strawinskys „The Rake’s Progress“, ja nicht mal mit dem zum musikalischen Erbgut des Festivals gehörenden „Don Giovanni“ zu überbieten.
McBurney bebildert die Geschichte von Tom Rakewell (Paul Appleby) in einem weißen Bühnenkasten mit Video-Ambietente, das zwischen Landschafts-Idylle, Stadtlandschaft und prunkendem Protz wechselt. In seiner Kurzehe mit der bärtigen Türkenbaba (mit komödiantischem Aplomb: Andrew Watts) stoßen die Prunkstücke der Einrichtung von allen Seiten durch die Papierwände des Bühnenkastens. Dazu spielt eine Statistentruppe ihre Attraktivität als personifizierte Dekadenz sportiv aus. Die werden dann wie Nick Shadow (aus dem Ensemble stimmlich herausragend: Kyle Ketelsen) auf dem Friedhof, effektvoll von der Videoprojektion unterstützt, von der Erde verschluckt…. während Tom im Wahnsinn vergeblich die Risse in den Wänden (seines Lebens) zu kleben versucht. Diesmal leitet Eivind Gullenberg Jensen das Orchester de Paris, das als aktuelles Residenzorchester der Festspiele ungetrübte musikalische Freue bereitete.
Wolfgang Amadeus Mozart: „Don Giovanni“
Sportlich geht‘s dann auch mit Jean-François Sivadier beim „Don Giovanni“ zu. Eine junge Truppe trifft sich auf einer fast schrägen Spielfläche. Ein Titelheld (Philippe Sly) der sich mit körperlicher Lust ins Spiel um die Frauen wirft und dabei die Ordnung herausfordert. Am Ende gar wie der Heiland am Kreuz im Scheinwerfer (des Begehrens der anderen und als deren verbleibender Traum von Libertinage?) aufrecht stehen bleibt. Auch hier sorgt etwas mehr Personal als vorgesehen für den Drive im Spiel mit der Jagd des Mannes nach den Frauen im Allgemeinen. Und der Frauen nach ihm im Besonderen. Dieser Don Giovanni liefert seine bewährten Gesten der Verführung auch ohne konkretes Gegenüber ab, landet aber wirklich bei der Zofe, die er auf Verdacht ansingt – diesmal also: Tausdenundvier. Bei Zerlina (Julie Fuchs) braucht‘s auch nicht viel Mühe. Wenn bei der Registerarie Leporellos (Nahuel di Pierro) immer mehr Lampen angehen oder im Chaos des ersten Finales der Putz bröckelt, dann setzt das genauso auf Tempo und Spielfreude, wie der unmerkliche Wechsel der Kostüme von heute Richtung Ancien Regime und zurück auf den Hintersinn einer Herausforderung der bestehenden Ordnung. Beim LIBERTA Schriftzug an der Wand wird hier vielsagend gleich das Kreuz als T benutzt…. Sly (der bei der Premiere im zweiten Teil ein Problem mit der Stimme professionell überbrückte) führt eine geschlossene Ensembleleistung an, die Pavol Breslik (als Don Ottavio) allerdings nicht wirklich überstrahlte. Dafür fügen sich auch Eleonore Buratto (Donna Anna), Isabel Leonard (Donna Elvira) und alle andern in die motorisch aufgeladene Kurzweil ein, die im Graben von Jérémie Rhorer und dem Le Cercle de l’Harmonie getragen wird.
Für den nächsten Sommer stehen u.a. Ariadne auf Naxos, der Feurige Engel und die Zauberflöte auf dem Programm. Und dann übernimmt Pierre Audi das wichtigste französische Musik-Festival……
- Das Festival dauert noch bis 22. Juli 2017; www.festival-aix.com