In den letzten 30 Jahren gab es kaum Bemühungen, sich der Musikgeschichte der DDR kritisch und vor allem sachlich zu nähern. Das hurtig geeinte Deutschland zeigte wenig Interesse an den schöpferischen Denkansätzen der Komponisten aus der DDR, die kulturelle Okkupation verlief im Gleichschritt mit der ökonomischen. Kreatives Potential unterschiedlicher Prägung gab es auf beiden Seiten, aber Schritte, die den Dialog und die Vermittlung voranzutreiben gesucht hätten, wurden erst gar nicht gegangen.
Mit der Zeit schwindet natürlich der Personenkreis, der darüber profund Zeugnis ablegen kann, der nicht allein das privat Erlebte in den Vordergrund zu schieben weiß, sondern sich die Sichtung des umfangreichen Archivmaterials zur Aufgabe machen könnte.
Im wiedereröffneten Kulturpalast in Dresden, einem Bauwerk der DDR-Zeit, fand nun am 9. November eine ganze Reihe von Konzerten statt. „…und der Zukunft zugewandt…“ hieß die Parole, die sichtbar und auch hörbar machte, dass man sich dem Vollzug einer schleichenden Entwurzelung entgegenzustellen weiß. Das Hauptwerk des Abends war die Sinfonie „In memoriam Martin Luther King“ von Friedrich Schenker (1942–2013), die am Anfang des Jahres 1972 von der Dresdner Philharmonie unter Kurt Masur im gleichen Haus uraufgeführt und nun vom selben Klangkörper unter der Leitung von Jonathan Stockhammer erneut aufs Programm gesetzt wurde. Der agitatorische Impuls, der keine Zurücknahme der komplexen musikalischen Behandlung der programmatischen Abläufe bewirken muss, schafft durch die Einbeziehung des Luther-Chorals „Eine feste Burg ist unser Gott“ ein tiefgründiges ideelles Beziehungsgeflecht, in dem ein geweiteter historischer Blick die Zielsetzung überzeugend aufzeigt. Die nun wiederholte Aufführung des sich am Limit bewegenden monumentalen Werks wuchs zu einem emotionalen Kraftakt, der nicht zuletzt dem Orchester und seinem Chefdirigenten, der an diesem Abend schier Unglaubliches leistete, zu verdanken ist.
Die Kammermusik II für Oboe, Violoncello, Klavier und elektronische Klänge von Paul-Heinz Dittrich aus dem Jahr 1974 verortet experimentelle Lust auf einer Ebene, die auf Bodenhaftung verzichtet und die Extreme bis zum Exzess treibt. Die Einbindung von Elektronik war in der damaligen Zeit Pionierarbeit, da es keine Studios gab. In Georg Katzers „Fabbrica abbandonata“, 2011 uraufgeführt, vertont der Komponist zwei Gedichte Wolfgang Hilbigs: „Die verlassene Fabrik“ und „Episode“. Wenngleich eine Kohärenz zu Nonos „La fabbrica illuminata“ vermutet werden kann, so setzen sowohl Hilbig als auch Katzer deutlich antagonistische Zeichen. Die Veranstalter verknüpften mit der Aufführung des Werks eine Lesung, für die Texte Hilbigs aus seinem Band „Stimme Stimme“ entnommen wurden.
Auch Wilfried Jentzschs „Tamblingan“ von 2009 ist ein relativ junges Werk, das der gebürtige Dresdener unter dem Eindruck einer Reise in den Regenwald Balis für elektronische Klänge und Video konzipierte und damit einen geradezu synästhetischen Bezug herstellt. Mit der „Sonata a quattro für sechzehn Spieler“ von Friedrich Goldmann kam ein Werk zur Aufführung, das in der Wendezeit entstand. Vier Instrumentengruppen (Blech-und Holzbläser, Streicher und Schlagzeuger), räumlich voneinander getrennt, suchen den Dialog: miteinander, intern oder abgekoppelt. Allein das Schlagwerk vermag sich aufgrund seiner spezifischen Möglichkeiten im Ton zu „vergreifen“, was Goldmann gekonnt in Szene zu setzen weiß. In einer fast intim anmutenden Aufführung des Dokumentarfilms „Zeit-Klänge: Klang-Szenen: Skizzen zu Friedrich Goldman“ von Frank Schleinstein wird ein Filmemacher geehrt, der im Strudel des freien Marktes (der einen kulturellen Austausch nicht anstrebte) in Vergessenheit zu geraten droht.
In Kooperation mit verschiedenen institutionellen Partnern vergab das Ensemble AUDITIVVOKAL DRESDEN Aufträge an sechs Komponisten, für diese Vokalformation Stücke zu schreiben, die dem Gedanken Europa verpflichtet sind. Mit diesem Uraufführungskonzert wurde der Thementag im Kulturpalast eröffnet. Harald Muenz, Stefan Beyer, Hakan Ulus, Chatori Shimizu sowie Fojan Gharibnejad und Zachary Seely steuerten Werke bei, die aufhorchen ließen und dem hehren Anspruch des Zitats aus der DDR-Hymne mehr als gerecht wurden. Neben dem Vokalensemble aus Dresden, das von Olaf Katzer geleitet wurde, agierten an diesem Tag Catriona Bühler (Sopran), Peter Schweiger (Sprecher) und das Collegium Novum Zürich.
Wenngleich das Jubiläum des Mauerfalls an verschiedenen Stellen Anlass zu Äußerungen gab, so muss doch konstatiert werden, dass auch an diesem 30. Jahrestag die Chance einer umfassenden Aufarbeitung erneut vertan wurde. Und das Publikum in Dresden blieb weitgehend unter sich, ohne Hörer, die man dort gern gesehen hätte.