Hauptbild
Foto: Coline Chardon / Philharmonisches Staatsorchester Mainz
Foto: Coline Chardon / Philharmonisches Staatsorchester Mainz
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Phrasenbildung im Reagenzglas. Das Philharmonische Staatsorchester Mainz wagt beim Jugendkonzert einen „Besuch in Haydns Komponier-Labor“

Publikationsdatum
Body

Ja, Joseph Haydn. Im schulischen Musikunterricht gibt es noch ein paar Nischen für ihn. Da ist der „Paukenschlag“ – als etwas grobschlächtiges Beispiel für seinen Humor und, praktischerweise, für einen Variationensatz. Das „Kaiserquartett“ enthält auch einen solchen und darüber hinaus die Melodie der deutschen Nationalhymne. Und da gibt es dann noch die „Abschiedssinfonie“ – als bemerkenswertes Beispiel für Courage gegenüber dem fürstlichen Arbeitgeber. Aber „cool“ ist der Mann nicht – weder zu früh gestorben und als Süßigkeit in Kugelform verbreitet wie Mozart, noch „beinahe ein Rock‘n Roller“ wie Beethoven … Hermann Bäumer, GMD in Mainz, bewegt sich also auf dünnem Eis, wenn er beim „Konzert für junge Leute“ mit dem Philharmonischen Staatsorchester einen „Besuch in Haydns Komponier-Labor“ wagt.

Beim Betreten des Zuschauerraums im Großen Haus des Staatstheaters um kurz vor sieben Uhr abends stimmt der hohe Geräuschpegel skeptisch. Etliche Erwachsene sind zwar auch da, aber im Publikum dominieren die 10- bis 12-Jährigen. Ganze Schulklassen sind angereist. Doch als das Orchester Platz nimmt, wird es schon merklich leiser, und als dann der GMD mit großen Schritten auf die Bühne stürmt, ist es nahezu still. Hermann Bäumer gibt den Einsatz zum einleitenden Adagio von Haydns letzter Sinfonie Nr. 104 – und bricht nach zwei Takten Fanfare schon wieder ab. Ganz mit Absicht. Vielleicht, um Haydns musikalische Dramaturgie der Überraschungen schon im Konzertablauf abzubilden, vielleicht nur, damit auch der letzte Schwätzer merkt, dass es jetzt angefangen hat. Die Hälfte des Orchesters darf jedenfalls nach diesen zwei Takten für eine Stunde in die Pause gehen. Auch Bäumer verlässt die Bühne, kommt aber gleich wieder – im weißen Laborkittel und einem kleinen Wagen mit Reagenzgläsern, in denen kleine Schriftzettel stecken.

Im ersten Reagenzglas findet der GMD das Element „Phrasenbildung und Form“. Er stößt einen leichten Stoßseufzer aus: „Das ist das schwerste!“ Das Publikum wird nicht geschont. Erst hören wir den Anfang von Haydns Sinfonie Nr. 8 („Le Soir“), dann dürfen wir die Länge der Phrasen zählen. Meist zählt man ja bis 4, aber hier mischen sich auch die 6, die 5 und die 7 dazwischen. (Die Details der Phrasenverschränkungen bleiben uns erspart.) Und dann kommt plötzlich etwas Neues. „Wer singt noch in der Schule und erkennt die Form?“ fragt Bäumer, und bald ertönt aus dem Rang das erlösende „Kanon“. Es folgt der Hinweis auf die Solo-Instrumente in der Concerto-grosso-Tradition Händels, und dann dürfen wir nicht nur den ganzen Satz hören, sondern auch den letzten, „La Tempesta“ mit der lebhaften abendlichen Gewitter-Szene. Immer wieder blickt Bäumer in eines der Gläser, manchmal verschüttet er auch den unsichtbaren Inhalt, und was danebengeht, das saugt dann Haydns originaler (?) Tischstaubsauger wieder auf. Aber daneben hat er auch ein Buch dabei: Die von Haydns Freund Giuseppe Carpani verfasste Biographie des Komponisten. Daraus zitiert er ab und an, und er liest auch einen Originalbrief Haydns von 1766 vor, in dem dieser sich bei seinem fürstlichen Arbeitgeber um die Neuanschaffung zweier Oboen bemüht.

Natürlich wird nicht nur die Fürsorge des Kapellmeisters für die ihm unterstellten Musiker erwähnt – daher der Name „Papa Haydn“ –, sondern auch die Qualität der Esterházischen Kapelle. Da gab es etwa den berühmten Geiger Luigi Tomasini, für den Haydn mehrere Violinkonzerte schrieb. Aus dem Konzert Nr. 1 in C-Dur hören wir – ohne weiteren Kommentar – den zweiten und dritten Satz, ansprechend interpretiert von der jungen koreanischen Geigerin Jinsun Jang, die im vergangenen Sommer den zweiten Preis beim „Wettbewerb Konzertexamen“ der Musikhochschule gewonnen hat. Danach ist dann wieder das pointiert aufspielende Philharmonische Staatsorchester alleine an der Reihe – mit der Sinfonie Nr. 60, „Il Distratto“ („Der Zerstreute“), die eigentlich eine Schauspielmusik zu Jean-Francois Regnards Schauspiel „Le Distrait“ war. Bäumer erzählt davon und imitiert ein wenig den verträumten Leander, der so zerstreut ist, dass er einen Liebesbrief an die Falsche adressiert. Gerne glauben wir, dass der 2. Satz mit seinen überraschenden Einwürfen und kuriosen Fortsetzungen den Träumer charakterisiert. Aber ob das bewegte Presto des 4. Satzes wirklich in einen Ballsaal führt? Eindeutig ist jedenfalls, dass vor dem 6. Satz (!) die Geigen zerstreut gewesen sein müssen, denn die müssen plötzlich mittendrin die tiefe G-Saite nachstimmen.

Mit Auszügen aus der Sinfonie Nr. 90 vermeidet Bäumer nach der Pause weiter die ausgetretenen Pfade des Schul- und Konzertwesens. Im Menuett und Trio wird die Mischung der Elemente wieder genauer betrachtet; das Finale darf das Publikum genießen – aber nur, um zweimal in eine unvorgesehene Generalpause hinein zu applaudieren. „Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie da geklatscht haben,“ wendet sich der GMD an die Erwachsenen im Publikum, „mir ist es beim ersten Hören im Konzert auch so gegangen; ich bin ganz rot angelaufen damals“. Und dann sind wir schon bei der Sinfonie Nr. 104, zu der endlich auch die Klarinetten wieder erscheinen dürfen. (Ates Yilmaz, Soloklarinettist und Orchesterpädagoge, reckt augenzwinkernd die Faust.) Ein paar Hinweise erleichtern den Zugang zum 1. und 2. Satz. „Wahnsinnig gern“ würde er noch den 4. Satz bringen, sagt Bäumer, auch wenn es etwas später als neun Uhr würde. Ausbleibender Protest darf als Zustimmung gelten, und so dürfen die Zuhörer erst einmal das kroatische Volkslied anstimmen, mit dem Haydns Finale beginnt. Das funktioniert dank deutscher Textfassung passabel, aber doch zu leise. Bäumers Kritik „Volkslieder werden meist eher kräftig gesungen“ findet Gehör. Der 2. Rang lässt sich nicht lumpen und ist im Parkett deutlich zu hören. Nachher, beim Hinausgehen, pfeift oder summt noch der eine und andere das Lied von Jelena und den grünen Äpfeln.

Vor dem Finale hat Bäumer noch einmal Haydns Biographen Carpani zitiert; der zählt Haydn zu dem zivilen Helden, denen die Menschheit ihren eigentlichen Fortschritt verdankt. Bei den Erwachsenen und den älteren Jugendlichen dürfte die Botschaft angekommen sein, für die Jüngeren hätte es vielleicht doch ein wenig Hintergrund-Information über die kriegerischen Zeiten gebraucht, in denen Haydns letzte Sinfonie entstand. Und was bedeutet es eigentlich, wenn in deren Finale das Volkslied immer wieder festlich-militärischen Fanfaren begegnet? Ist das nur eine musikalische Finesse – oder auch ein politischer Kommentar vor dem Londoner Publikum? Hat das eigentlich schon mal irgendeinen Musikwissenschaftler interessiert? Manches bleibt offen an diesem Abend, und nicht jedes Reagenzglas wurde geöffnet. Aber immer wieder standen wir vor der spannenden Frage „Wie ist die Musik eigentlich gemacht?“

Fest steht jedenfalls: Der Besuch im Komponierlabor funktioniert und lohnt, wenn die Voraussetzungen stimmen. Konkret: Ein Großteil des jungen Publikums war nicht zum ersten Mal da, und selbst in den 2. Rang hat der völlig unverkrampft auftretende GMD schon eine funktionierende Fernbeziehung aufgebaut. Andernorts und anderntags erlebt man das auch anders. Dass die deutsche Orchesterstiftung gerade ihre für den 9. und 10. Juni in Mainz angesetzte Fachkonferenz „Orchester und Schule“ mangels Beteiligung abgesagt hat, ist in diesem Zusammenhang ein schlechtes Zeichen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!