Religion und Theater, das geht schon immer zusammen. Sonst könnten die selbsternannten Stellvertreter erdachter Götter ihre Allmachtsfantasien nicht so wirkungsvoll unter die Völker bringen. Puccinis „Tosca“ ist gleichsam ein Dreiklang aus Religiosität, Theatralik und Machtrausch. Und mehr? Michael Ernst war bei der Saisoneröffnung der Mailänder Scala vor Ort.
Die Saisoneröffnung am Teatro alla Scala ist immer ein Fest. Da wird der Mailänder Schutzpatron Sant’Ambrogio gefeiert und zur gleichnamigen Kirche gepilgert. Unendlich viel mehr Menschen zelebrieren den zumeist auch noch sonnigen 7. Dezember mit Besuchen der Kaufhäuser, Boutiquen und Weihnachtsmärkte. Und wer es geschafft hat, eine der jedes Jahr höchst begehrten Karten für die „Inaugurazione“ der Scala zu ergattern (zu Preisen bis 3.000 Euro), zeigt sich dort zur ersten Premiere der neuen Saison schick, seriös oder extravagant für Fotografen und Fernsehkameras. Oder zumindest für Selfies.
Wie selbstverständlich gehören seit Jahren lautstarke Proteste und offensiver Polizeischutz zu den Begleitumständen dieses Festes, das ja eigentlich eine ausschließliche Feier des Musiktheaters sein sollte. Doch während die Menschen draußen auf der Straße, die gegen soziale Ungerechtigkeit, Italiens Einwanderungspolitik und den Syrien-Krieg demonstrieren, zumeist nur mehr müde belächelt werden, gilt drinnen dem Staatspräsidenten Mattarella ein diesmal fast fünf Minuten währender Begrüßungsapplaus. Nach derartigem Personenkult zur italienischen Hymne gilt es dann freilich der Kunst. Und die liegt bei Musikdirektor Riccardo Chailly naturgemäß in besten Händen.
Wie er das Orchester der Scala einen samtenen Teppich ausrollen lässt, darauf dramatische Höhepunkte und emotionale Tiefe umsetzt, das ist mitreißend bis beglückend. Giacomo Puccinis „Tosca“ in der Version ihrer römischen Erstaufführung aus dem Jahr 1900, dediziert dem vor 100 Jahren geborenen Teatro-Stabile-Mitbegründer und späteren Scala-Intendanten Paolo Grassi (gest. 1981), das ist – natürlich – ein Dreiklang aus Religiosität, Theatralik und Machtrausch. Mehr als in so manch anderer Oper wird hier aber das Prinzip „Prima la musica“ unter Beweis gestellt. Die mitreißende Emotionalität dieser Komposition geht unter die Haut, damals wie heute.
Wenn sie dann noch von einem so prachtvollen Orchester und einem derart klangstarken Chor ausgeführt wird, sind die Hörnerven hinreißend gespannt. Erst recht, wenn in der Titelpartie La Netrebko“ brillieren darf, eine ausdrucksstarke Anna Netrebko, die ihrem Sopran hell leuchtende Liebe und schwarzdunklen Tod abringen kann. Wenn ihr ebenbürtige Sänger zur Seite stehen, Francesco Meli als Maler Mario Cavaradossi mit schlankem Tenor, Sinn für die leiseren Tönen und Kraft für den ganz großen Ausbruch sowie Luca Salsi als fieser Baron Scarpia, dem er das Stimmvolumen eines geschliffenen Faustkeils verpasst, mit dem er quer durch das gesamte Theater zu dringen vermag. Aber auch Alfonso Antoniozzi als hinterhältiger Sakristan und Carlo Cigni als verfolgter Angelotti gestalten ihre Partien charaktervoll mit Brillanz, desgleichen Carlo Bosi als intriganter Spoletta und Giulio Mastrototaro als düsterer Sciarrone.
Regisseur Davide Livermore hat diese „Tosca“ – nach seinem Mailänder Vorjahreserfolg mit Giuseppe Verdis „Attila“ – als bombastisches Theaterprojekt umgesetzt. Da tanzt im Bühnenbild des Designerstudios Giò Forma die berühmte Kirche Sant’Andrea delle Valle gleichsam mit Kapellen, Säulen, Bögen und Bildern eine Choreografie, die über das statuarisch geführte Personal hinwegtäuschen soll. Bewegend hingegen gelingt ihm der zweite Akt, in dem der Polizeichef Scarpia den Maler foltern lässt und dessen Geliebte erobern will. Ein ergreifendes Drama aus Rom mitten in Mailand. Ausgestattet als prunkvolles Kostümfest von Gianluca Falaschi.
Der Schlussakt mit Marios Hinrichtung, die nur zum Schein ausgeführt werden soll, spielt auf einer sich drehenden Engelsburg, die mit einem gewaltigen Flügel angedeutet ist (auf den überflüssigerweise noch kurz das tatsächliche Bauwerk projiziert werden muss) und dem scheidenden Liebespaar Tosca / Cavaradossi für bewegende Momente dient.
Wie schon zu Beginn dieser Oper, wenn Cavaradossis Kirchenmalerei als gewaltige Videoproduktion (verantwortet von D-Wok) durch die Szene geistert, ist auch im zweiten und dritten Akt moderne Technik für szenische Abwechslung gut. Als eine Art bewegliches Wachsfigurenkabinett mit Fellini-Anleihen schmückt ein visualisierter Fries religiöser Legendendarstellungen den Prunksaal der tödlichen Macht – und statt eines bekanntlich unmöglichen Sprungs von der Engelsburg in den Tiber entschwebt Tosca in Form einer Lichtgestalt gen Bühnenhimmel.
Reichlich Beifall für alle Darstellerinnen und Darsteller – Szenenapplaus nicht nur nach Netrebkos „Vissi d’arte“ und Melis „E lucevan le stelle“ –, für Chor und Orchester sowie für das gesamte Inszenierungsteam. Für alle Beteiligten dieses denkwürdigen Abends: ein Fest.