Mit einem Hirsch auf der Waldlichtung wirbt die Junge Deutsche Philharmonie für ihr drittes Musikfestival „Freispiel“ in Frankfurt. Doch tut sich das klassische Kitsch-Motiv erst hinter dem nüchternen grauen Metalltor einer Großgarage auf. Die „magische Welt der Romantik“ auf der einen, die traditionell als „Bankfurt“ apostrophierte Mainmetropole auf der anderen Seite scharf prallen die Gegensätze aufeinander.
Doch der Kulturfonds Frankfurt RheinMain, 2007 zur Bündelung der kulturellen Kräfte in der Region gegründet, sieht keinen Widerspruch. Vor 200 Jahren seien aus dieser Region von Dichtern, Malern, Gartenarchitekten, Philosophen und Musikern weitreichende Impulse ausgegangen. Rhein-Main sei zwar nicht die „Wiege“ der Romantik, aber immerhin ihr „Labor“. Und so stellt der Fonds die Jahre 2012 bis 2014 unter das Motto „Impuls Romantik“. Einer der Bausteine im Programm ist das dreitägige „Freispiel“-Festival der Jungen Deutschen Philharmonie. Das aus engagierten Musikstudierenden bestehende Ensemble versteht sich als „Impulsorchester“. „Wir wollen etwas bewegen!“ heißt es in der Ankündigung, und: „Wir hinterfragen Traditionen und Interpretationen, wir geben Hör- und Denkanstöße, wir entwickeln neue Aufführungsformen und Veranstaltungsformate – wir denken weiter.“ Das ist ein ehrgeiziger Ansatz in einer Region, in der fünf gute bis ausgezeichnete Opern- und Sinfonieorchester koexistieren, und in einer Stadt, in der die Alte Oper als Konzerthaus programmatische Maßstäbe setzt und für den Flaneur den atmosphärischen Kristallisationspunkt der Innenstadt bildet.
Mit einer musikalischen „Nachtwanderung durch Frankfurt“ am ersten Abend gelingt es der Jungen Deutschen Philharmonie, einen eigenen Akzent zu setzen. Mit dem alten Nebbienschen Gartenhaus von 1810, dem vor 30 Jahren als historisches Puzzle errichteten Bürgergarten in der Eschenheimer Anlage, dem Kaminzimmer des Eschenheimer Turms und dem historischen Eisenbahnwaggon am Eisernen Steg berührt der von Mitarbeitern der Kulturothek Frankfurt geführte Weg Orte, die der normale Passant in ihrer Existenz oder Bedeutung gerne übersieht. Schon eher bekannt sind die Paulskirche (als Wiege der deutschen Demokratie), die Katharinenkirche an der Hauptwache und das Palais Thurn und Taxis. An allen Orten gibt es kurze Erläuterungen zum Zusammenhang mit dem Freispiel-Thema und ein kleines Kammermusikprogramm. Die Erläuterungen sind spannend, die Musik zumeist auch, doch der Zusammenhang will sich nicht immer erschließen. Kultur- und geistesgeschichtlich ist der Begriff „Romantik“ hier schon sehr weit gefasst. Musikalisch aber zerfließt er fast ins Unendliche.
Was verbindet Felix Mendelssohns Klaviertrio op. 49, Gustav Holsts Holzbläserquintett op. 14 und David Friedmans „Texas Hoedown“ für Vibraphon? Und was diese Aufführungen mit Hanns Eislers „Kleiner Sinfonie“ op. 29 und Hans Werner Henzes „Kammerkonzert 05“ (nach seiner 1. Sinfonie), die am dritten Abend beim Philosophischen Salon in den „Landungsbrücken“, einem Off-Theater zwischen Hauptbahnhof und Briefverteilzentrum, erklingen? Diese beiden Stücke geraten bei nahezu tropischer Hitze unter der Leitung von Erik Nielsen zu Musterbeispielen verdichteten, ausdrucksvollen Musizierens. Aber wie bezieht sich die Musik aufs Thema des Salons „Suche nach Identität“? Der Vortrag des Mainzer Philosophen und Universitätsprofessors Thomas Metzinger, der unser traditionelles Bild vom „Selbst“ mit guten Gründen untergräbt, ist spannend, Moderator Michael Hohmann und die Zuhörer stellen gute Fragen. Aber warum bleiben nur wenige Orchestermitglieder zum Gespräch? Vielleicht, weil sie gerade Spaß dran haben, in der Programmgestaltung „sie selbst“ zu sein?
Wo bleibt der rote Faden des Festivals, wie gewunden und verschlungen er auch sein mag? Immerhin, zeitlich und geografisch findet es seine Mitte am zweiten Abend im 2004 in verkleinerter Form wieder aufgebauten Palais Thurn und Taxis. Das fertiggestellte Untergeschoss wird als „Eventlocation“ vermarktet, der Rest soll nach abgeschlossenem Innenausbau „attraktiven Einzelhandel“, „gehobene Gastronomie“ und „ansprechende Büros“ aufnehmen. „Steinherz und Geldseele“, ein Essay des Tübinger Philosophen und Romantik-Experten Manfred Frank, kommt einem bei dieser städtebaulichen Konstellation in den Sinn.
Nach verschiedenen selbstgewählten und über das Gebäude verteilten Kammermusik-Aktivitäten findet sich die Junge Deutsche Philharmonie im Untergeschoss zu einem „Konzertfragment“ betitelten Kernprogramm zusammen. Unter Erik Nielsens Leitung erklingt – als Dokument der „schwarzen Romantik“ und in ausgezeichneter Feinabstimmung mit dem jungen Pianisten Henri Sigfridsson – Franz Liszts „Malédiction“ für Klavier und Orchester. Das „Intermezzo“ aus Franz Schrekers „Romantischer Suite“, Jean Sibelius’ „Valse triste“ und Henri Duparcs „Aux étoiles“ stehen für das naive, nostalgische oder gebrochene Weiterleben der Romantik. Maurice Ravels Bearbeitung von Robert Schumanns „Carnaval“ beleuchtet die deutsch-französischen Beziehungen im 19. Jahrhundert: Wer sonst fände bei Schumann einen preußischen Militärmarsch? Eine weitere Schumann-Bearbeitung ist ebenso aufschlussreich: Theodor W. Adorno, der gestrenge Präzeptor der Neuen Musik, konnte sich bei seiner Orchesterfassung von sechs Stücken aus dem „Album für die Jugend“ anscheinend nicht so recht entscheiden zwischen philosophischem Anspruch und Spaß am Salon, zwischen sauberem analytischen Zugriff und herablassender Pädagogik.
Nicht nur hier begegnet das Festival dem Genius Loci mit leichter Ironie. Es ist schon ein wenig subversiv, wie es sich mit dem Raumkonzept von Sebastian Hannak im Palais eingerichtet hat. Romantische Schattenrisse an der Wand und Papierblumen um den Flügel herum dekorieren den Beton im 1. Stock zu Schumanns originalen „Carnaval“ und Guido Schäfers lebendigen „Freischütz“-Arrangements für Holzbläserquintett. Und im Innenhof steht eine stilisierte große schwarze Postkutsche. Zwei Assoziationen kommen schnell auf: Das Reisen und die Post als romantische Lieblingsmotive zum einen, dann ihre Verkehrung ins Nachtschwarze. Der zweite Blick aufs Objekt offenbart die abgebrochenen Vorderräder. Der Radbruch ist hier und jetzt die sympathische Hommage ans Unvollendete, ans Fragmentarische und an die Möglichkeit des Scheiterns – auch dies wichtige Facetten der Romantik.