Die Pariser Bohème taugt immer mal wieder als Vorlage für Kunst, nicht zuletzt in der Oper. Man denke nur an Puccini. Aber auch dessen französischer Zeitgenosse Gustave Charpentier hat dieser Stadt ein musikalisches Denkmal gesetzt.
![Akiho Tsujii, Thomas Kiechle, Elisabeth Dopheide, Xingmeng Liu © Nasser Hashemi Akiho Tsujii, Thomas Kiechle, Elisabeth Dopheide, Xingmeng Liu © Nasser Hashemi](/system/files/styles/nmz_hero_xs_1x/private/image/pr09_louise_c_nasser_hashemi.jpg?h=f3f22c0b&itok=j0OmEtBq)
Akiho Tsujii, Thomas Kiechle, Elisabeth Dopheide, Xingmeng Liu © Nasser Hashemi
Seelische Abgründe in der Stadt der Liebe: Chemnitz entdeckt mit „Louise“ eine Rarität
Bei den Stichworten Oper und Paris denken Musikliebhaber wohl fast automatisch an Puccini und „La Bohème“. Aber es gibt noch andere Werke des Musiktheaters, in der die Seine-Metropole eine Rolle spielt. Eine veritable Hauptrolle sogar kommt dieser Stadt der Liebe in der Oper „Louise“ von Gustave Charpentier zu. – Nie gehört, diesen Titel? Nun, es ist zwar sicherlich das bekannteste Werk des französischen Komponisten, der von 1860 bis 1955 gelebt hat, dennoch verkam es längst zu einer Rarität in den Spielplänen. Chemnitz wollte das als Europäische Kulturhauptstadt unbedingt ändern.
Dabei muss sich gewiss niemand schämen, von Gustave Charpentier und seiner Oper „Louise“ noch nie etwas gehört zu haben, auch wenn das Stück seinerzeit ein Sensationserfolg gewesen und zu Lebzeiten des Komponisten an die tausendmal aufgeführt sein soll. Allein in Paris, wo es am 2. Februar 1900, also fast auf den Tag genau vor 125 Jahren zur Weltausstellung uraufgeführt worden ist. Heute rangiert „Louise“ eher unter Rarität und ist, wie die spätere Fortsetzung „Julian“ beinahe vergessen.
Ein Liebespaar in Paris
Die beiden Titelfiguren bzw. Figuren-Titel „Louise“ und „Julien“ klingen nicht nur nach einem Liebespaar, sondern sie sind es auch: Ein Liebespaar in Paris, genauer gesagt in der Bohème von Paris. Da liegen Gedanken an Montmartre an Puccini und dessen vier Jahre zuvor in Turin herausgekommener, bereits 1898 erstmals in Paris gezeigter „La Bohème“ auf der Hand. Charpentier fühlte sich wohl selbst diesem Milieu zugehörig und liebte sein Paris (obwohl er ursprünglich Lothringer war), hat seine in Rom begonnene Oper aber in einem ganz anderen Sujet angesiedelt. Die Titelfigur Louise ist eigentlich Schneiderin und mit einem Bohèmien verlobt, wird von ihren Eltern aber quasi weggesperrt. Das sei kein Umgang für die geliebte Tochter.
Schweren Herzens flieht sie ihr Elternhaus, scheint eine Zeit lang glücklich mit dem Geliebten zu sein, bis die Mutter auftaucht und ihr vom Kummer des Vaters berichtet. Louise soll nach Hause kommen, damit er wieder gesund wird. Sie lässt sich darauf auch ein, angeblich nur vorübergehend, wird dann aber doch wieder festgehalten. Im Original brennt sie vor Sehnsucht – nach Julien und dem lebendigen Paris – und entscheidet sich für ihre Freiheit. Die Chemnitzer Inszenierung geht aber andere Wege: Louise stürzt sich von einer Treppe auf die Hinterbühne, ein Finale, das an Tosca und Engelsburg denken lässt. Der Vater leistet sich abschließend noch ein wütendes Wettern wider die freie Liebe im ach so verlockenden Sündenpfuhl Paris.
Regisseurin Rahel Thiel hat aus diesem bei Charpentier vor allem auf soziale Konflikte zielenden Roman musical ein szenisches Psychogramm komponiert. Hier werden Innenwelten der Protagonisten gespiegelt, wird Louise gleich mehrfach gedoppelt. Die Nähstube, in der sie eigentlich arbeitet, ist ein mit Schreibmaschinen vollgestelltes Büro (das Getippe lässt frappierende Anklänge an die Spinnräder in Wagners „Holländer“ zu). „Louise“ kann durchaus als französische Antwort auf Italiens Verismo gesehen werden, in Chemnitz entsteht daraus der Eindruck des späten Neorealismo, denn eine sehr puristische, kühle Wohnsituation wird mit Kostümen wie aus Filmen der 50er und 60er Jahre kombiniert. Bühnenbildner Volker Thiele hat als Kontrast dazu Pariser Panoramen gesetzt, um den Widerspruch von Louises Gefangensein und libertärer Weite deutlich zu machen. Kostümbilderin Rebekka Dornhege Reyes kleidete die zahlreichen Sänger-Darsteller passend dazu in nüchterne Roben.
![vorn v.l.: Thomas Essl, Elisabeth Dopheide, Paula Meisinger. Foto: © Nasser Hashemi vorn v.l.: Thomas Essl, Elisabeth Dopheide, Paula Meisinger. Foto: © Nasser Hashemi](/system/files/image/pr17_louise_c_nasser_hashemi.jpg)
vorn v.l.: Thomas Essl, Elisabeth Dopheide, Paula Meisinger. Foto: © Nasser Hashemi
Ein musikalischer Roman als Psychogramm von Paris
Geschichte und Figuren von Charpentiers Oper wurden somit ins Zeitlose geholt, wobei der Grundkonflikt – eine von den Eltern krass bevormundete Tochter – nicht mehr so recht ins Heute passen dürfte. Elisabeth Dopheide als Louise gestaltete ihren Part aber sehr hübsch im Spagat zwischen heiß und innig verliebt und bestraftes, schmollendes Mädchen. Ihr flexibler Sopran klang mit kraftvollen ebenso wie mit leisen Tönen in manchen Lagen metallisch schattiert. Ihr Geliebter Julien, ein Pariser Existentialist ganz in Schwarz, war Daniel Pataky mit zwar schneidigem Tenor, spielerisch aber erstaunlich zurückhaltend (man könnte gespannt sein, ihn in Charpentiers „Louise“-Fortsetzung in „Julien ou La vie du poète“ zu erleben).
Louises Eltern wirkten wie ein Kapitel für sich: Die Mutter, Typ Eisschrank, strahlte den Charme einer Tiefenbohrung in der Arktis aus – und ganz gewiss birgt ihre Vota in der Tiefe einige dunkle Geheimnisse. Paula Meisinger sang und spielte diesen Part absolut überzeugend. Der Ehemann ist von Thomas Essl etwas eindimensional umgesetzt worden, wirkte sowohl stimmlich als auch im Spiel eher wie der brave Vertreter vom Amt. Allerdings einer mit Abgründen, denn seine sehr egomane Liebe zur erwachsenen Tochter, mit der er am liebsten immer noch kuscheln möchte, klang dann doch schon fast nach #MeToo – an dieser Stelle steht wohl der gravierendste Unterschied zu Puccini.
Musikalisch hingegen gab es durchaus eine französische Entsprechung zum Italiener, zumindest vom Aufbau der Oper her: großes Chortableau, um Pariser Stimmung aufzuzeigen, vitaler Kinderchor mit Szenen aus dem Leben der Bohème, eindrückliche Stimmungsbilder mit einem MIx auf Tragik und Frohsinn. Insgesamt besitzt Charpentier freilich eine ganz andere, eine eigene Stilistik, ist mal nahe an illustrativer Filmmusik, mal absichtsvoll stark gebrochen, dann mitreißend schmetternd, auch elegisch – eben so bunt wie das Leben an der Seine.
Maximilian Otto und die Robert-Schumann-Philharmonie, die Chöre sowie alle Solisten sind da ganz drin aufgegangen, haben fabelhaft geklungen und auch manch straffere Tempi umgesetzt. Was im Ergebnis für ein rundum begeistertes Premierenpublikum in der Kulturhauptstadt gesorgt hat.
- Termine: 26. Februar, 2. und 8. März, 13. und 21. April, 10. und 24. Mai sowie 8. Juni.
- www.theater-chemnitz.de
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