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Aufführung in Frankfurt. Foto: Hauff
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Sensation oder Sensibilisierung? Der Mainzer Bach-Experte Karl Böhmer stellt eine neue Rekonstruktionsfassung von Bachs verlorener Markus-Passion vor

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Kein Musikstück sei so oft uraufgeführt worden wie Bachs Markus-Passion, sagt Felix Koch halb im Scherz, halb im Ernst, vor Beginn des Konzerts in der Frankfurter Heiliggeistkirche. Tatsächlich mangelt es nicht an Rekonstruktionsversuchen des verlorengegangenen Bach-Werkes. Braucht es da wiederum eine Neufassung, diesmal von dem Mainzer Musikwissenschaftler Karl Böhmer, immerhin einem anerkennten Experten für die Stilkunde des 18. Jahrhunderts? Oder, schärfer noch gefragt: Braucht man überhaupt dieses Bach-Fragment? Und sind die beiden Aufführungen in der Wiesbadener Christophoruskirche und der Frankfurter Heilggeistkirche durch den Mainzer Gutenberg-Kammerchor und das Neumeyer Consort wirklich die Sensation, die das Collegium Musicum der Universität Mainz als Träger des Chores verkündet?

Was unterscheidet die neue Fassung von ihren Vorgängerfassungen? Das knappe Programmheft des Frankfurter Kirchenmusikvereins verrät leider gar nichts. Dabei haben Böhmer, als Geschäftsführer der Mainzer Villa Musica selbst ein selten gründlicher Programmheft-Autor, und Koch als Professor für Alte Musik an der Mainzer Musikhochschule, durchaus die Zusammenhänge und ihre Vorgehensweise dokumentiert. Bei der Lektüre der Papiere stößt man auf ein dennoch etwas verwirrendes Puzzle, an dem Generationen von Musikwissenschaftlern und Interpreten mitgearbeitet haben. Authentisch erhalten sind nämlich nur zwei Textbücher: Eines von 1731, das andere von 1744.

Bis 1948 wurden zum Textbuch von 1731 der Eingangs- und Schlusschor, ein Turbachor und vier der sechs Arien gemäß Bachs Parodieverfahren schlüssig aus anderen Werken, vor allem der „Trauer-Ode“ (BWV 198) von 1727, rekonstruiert. Aus der von Bachs Sohns Carl Philipp Emanuel zusammengestellten Sammlung ließen sich fehlende Choräle plausibel ergänzen. Die verlorenen Rezitative indessen kann man, so der Tenor von Forschung und Aufführungspraxis, nicht angemessen rekonstruieren. Böhmer und Koch folgen nun der Praxis von Diethard Hellmann, der 1964 als erster eine Wiederaufführung wagte. Der damalige Leiter des Mainzer Bach-Chors ließ den Text des Markus-Evangeliums schlicht verlesen – einschließlich der eigentlich für die Turbachöre komponierten Passagen der Volksmenge. Zu dieser Fassung entstanden in der Folge zahlreiche Alternativvorschläge, darunter auch einer von Andreas Glöckner, Mitarbeiter des Leipziger Bach-Archivs, der die Hellmann-Version durch weitere Choralsätze erweiterte.

Das 2009 in der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg aufgefundene Textbuch von 1744 schuf eine neue Situation; es enthält nämlich den Text zweier zusätzlicher Arien. Die Suche nach plausiblen Vorlagen, aber auch die Unzufriedenheit mit den bislang vorliegenden Vorschlägen führten Karl Böhmer schließlich zu einer eigenen Version auf der Basis der beim Carus-Verlag gedruckten „Hellmann/Glöckner-Fassung“. Seine Kriterien beschreibt er mit den Worten: „Ich habe Vorlagen ausgewählt, die für die jeweilige Situation und den Affekt angemessen erscheinen, zudem reizvoll instrumentiert sind und den typischen Bach’schen Passionston zeigen.“ Böhmer fand eine Vorlage für die Bass-Arie „Ich lasse dich, mein Jesu, nicht“ in der Passionskantate BWV 159, für die übrigen Arien entdecket er das Modell in den drei Arien der A-Dur-Messe BWV 234 – was den Charme eines bereits erprobten und bewährten Zusammenhangs hat. Ferner tauschte er drei Choral-Vertonungen aus, transponierte einen weiteren Choral und übertrug die Arie „Falsche Welt, dein schmeichelnd Küssen“ in neuer Tonart und Instrumentation auf den Tenor, so dass jede der vier Solostimmen zweimal zum Einsatz kommt. Diese Fassung sei „rein spekulativ“, erklärt der Bearbeiter, aber doch „überzeugend Bachisch“, und werde hoffentlich eine eindringliche Passionsaufführung ergeben.

Philologisch lässt sich Böhmers Arbeit an dieser Stelle weder untersuchen noch bewerten, die Aufführung als solche jedoch überzeugt. Das beginnt schon mit der Verlesung des Markus-Evangeliums, das mit seinem Unterton von Nüchternheit und Detailtreue eine interessante Alternative zu den stärker stilisierenden und überhöhenden Passionsberichten der anderen Evangelisten darstellt. Es setzt sich fort mit der hohen Zahl von Choralsätzen und -melodien, die stärker auf die hörende und reflektierende Gemeinde als auf das glaubende und betroffene Individuum setzen. Die aus BWV 159 neu eingebrachte Arie „Ich lasse dich, mein Jesu nicht“ mit Solo-Oboe, Vorhaltsdissonanzen und erregtem Mittelteil passt erwartungsgemäß ausgezeichnet. Aber auch die Übernahmen aus der A-Dur-Messe sind stimmig. In der zweiten Bass-Arie „Will ich doch gar gerne schweigen, böse Welt verfolge mich“ kontrastieren die Pausen der Singstimme beredt zu der permanenten Bewegung in der verfolgenden Solovioline; zugleich geht die Musik lange genug, um das Gewicht der erzählten Episode um die Verleugnung des Petrus aufzufangen. In der folgenden Alt-Arie mit Oboe d’Amore gräbt sich die permanente Wiederholung der paradox formulierten Eingangsworte „Angenehmes Mordsgeschrei“ tief in den wiegenden Charakter der Begleitung ein. „Welt und Himmel, nehmt zu Ohren“ schließlich bindet den Sopran ein in einen reizvollen Kontrast zwischen absteigend klagenden Traversflöten und optimistisch aufwärtsschreitendem Bass.

Sprechendes Musizieren, ein ausgewogenes Klangbild und eine saubere Intonation, nachvollziehbare Tempi, die dem Affektgehalt und der musikalischen Struktur angemessen sind – all diese Qualitäten prägen die Aufführung in der Frankfurter Heiliggeistkirche in beeindruckender Weise. In den Choralsätzen unterscheidet Felix Koch stark zwischen eher lyrischen, gebundenen Textzeilen und stärker wortbetonten Passagen, deren Artikulation vom Non legato bis ins Staccato reicht. Dieses Verfahren trifft oft den Textgehalt, kippt aber gelegentlich in sinnwidrige Betonungen (z.B. „ím Gartén vorhánden“). Auch Fermaten werden teils kaum, teils überlang gehalten. Thomas Stegmann liest den Evangelientext und lässt als wacher, aber durchaus nüchterner Berichterstatter aufhorchen. Der emotionale, ebenso bildhafte wie besinnliche Charakter der Solo-Arien ist von den vier Gesangssolisten sensibel getroffen. Georg Poplutz (Tenor) und Christian Wagner (Bass) wirken dabei in Stimme und Ausstrahlung sicherer als Jasmin Hörner (Sopran) und Julien Freymuth (Altus).

Ist die Aufführung eine Sensation? Das kommt auf die Perspektive an. Für Bach-Experten und –Freunde womöglich schon. Dass einen Kenner wie Karl Böhmer die pure Faszination packt, wenn er feststellt, dass nicht nur eine, sondern gleich drei Arien der A-Dur-Messe auf den Text der verlorenen Markus-Passion passen, ist durchaus nachvollziehbar. Vielleicht könnte man auch dem breiten Publikum die Begeisterung für die Fruchtbarkeit philologisch-musikwissenschaftlicher Kleinarbeit vermitteln, wenn man ihm verschiedene Fassungen vergleichend vorstellen würde. Die zu spürende Sensation erwüchse dann aus der wachsenden Sensibilität für die Musik. (Interessant für künftige Gegenüberstellungen: Das Frankfurter Konzert und eine weitere Aufführung in der Wiesbadener Christophorus-Kirche wurden vom Spezial-Label „Christophorus“ auf CD mitgeschnitten.) Angesichts des hohen Durchschnittsalters im Frankfurter Publikum schiebt sich jedoch eine weitere Frage in den Vordergrund: Wie erhält man das Interesse an derartigen Passionsmusiken überhaupt – wenn die Zahl der erklärten Bach-Fans zurückgeht und christliche Inhalte zunehmend weniger verstanden, geschweige denn geglaubt werden?

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