Was ist ein klassisches Konzertprogramm ohne Solokonzert? Deutlich weniger populär. Die sportliche (oder ehr unsportliche) Konstellation „Einer gegen den Rest“ rührt an menschliche Ur-Erfahrungen, und der Solist oder die Solistin wird dabei schnell zur Identifikationsfigur. Mit der Geigerin Anne-Sophie Mutter und der Cellistin Alisa Weilerstein präsentierten sich beim Rheingau-Musik-Festival zwei sehr unterschiedliche Typen von Solistinnen.
Anne-Sophie Mutters Position als Stargeigerin ist unumstritten, und die Eintrittskarten für ihr Gastspiel im Wiesbadener Kurhaus waren die teuersten des gesamten Festivals. Ihr Status schafft Spielraum in der Programmwahl. Unter ihren Händen gerät das Werk eines lebenden Komponisten zum Ereignis - auch für den Teil des Publikums, der sonst um Neue Musik einen großen Bogen macht.
Wolfgang Rihms Violinkonzert „Lichtes Spiel“ wird bei seiner europäischen Erstaufführung im Friedrich-von-Thiersch-Saal kräftig und mit Recht gefeiert. Tastend und suchend, aber intensiv im Klang, arbeiten sich Solistin und das Pittsburgh Symphony Orchestra in ein Werk aus schattenhaften Gesten, geheimnisvollen Signalen und einzelnen Melodiebögen hinein. Abwärts führende Hornquinten, intervallisch verfremdet, erscheinen als unverkennbare Reminiszenz an die Romantik. Die Anknüpfung an die Tradition ist poetische Idee.
Das Konzert trägt den Untertitel „Ein Sommerstück“. Rihm hat es auf Wunsch der Solistin für ein „Mozart-Orchester“ mit Streichern und je zwei Flöten, Oboen und Hörnern, geschrieben, und herausgekommen ist ein eher zarter Sommernachtstraum, der klanglich und atmosphärisch Schönbergs atonaler Phase entstammen könnte, dabei aber auch Erinnerungen an Schubert, Mendelssohn und Mahler heraufbeschwört. Das Expressive kommt nicht zu kurz, und an einzelnen Stellen darf Anne-Sophie Mutter mit ihrer nicht nur von Rihm bewunderten hohen Lage glänzen.
Wie schön könnte sich dieser Abend runden mit Mendelssohns romantischem Violinkonzert in e-moll! Doch nun folgt ein musikalischer Absturz, der seinesgleichen sucht. In virtuosem, manchmal irrwitzigem Tempo sägt die Stargeigerin Mendelsohns Musik in Grund und Boden – ohne Punkt und Komma, mit aufgesetzten Betonungen, hingeknallten Spitzentönen und ruckartigen Beschleunigungen, die kein Orchester und kein Dirigent dieser Welt auffangen können. Die Orchestermusiker sitzen mit versteinerter Miene, und die forcierten Einsätze des Dirigenten wirken wie ein verzweifelter Versuch, an die Existenz eines Begleitensembles zu erinnern.
Über die Ursachen kann man spekulieren: Schlechte Tagesform, fehlende Proben, gestörte Kommunikation, Konzentrationsprobleme? Aber wer zwingt Anne-Sophie Mutter, zwei Violinkonzerte direkt hintereinander zu spielen? Oder macht sich im Wunsch, es nach der bei Rihm geübten Disziplin „mal richtig krachen zu lassen“, der Überdruss am Repertoire bemerkbar? Spätestens nach dem ersten Satz müsste die Selbstkontrolle wieder einsetzen. Dass sich aber am nächsten Abend in der Hamburger Laeiszhalle ein ähnliches Drama abspielt, wirft schon ernsthafte Fragen nach Qualifikation und Selbstverständnis der Interpretin auf.
In Wiesbaden sitzen die Musiker des renommierten Pittsburgh Symphony Orchestra in der Pause auf dem Podium und üben wie besessen ihre Passagen aus Tschaikowskys Fünfter Sinfonie. Es liegt in der Luft, dass der erste Abend ihres Europa-Gastspiels auf der Kippe steht. Und es wirkt geradezu wie eine Erlösung, als mit Manfred Honecks erstem Einsatz das Orchester anfängt, wie ein Mann zu spielen und zu atmen.
Man kann sich klanglich differenziertere Tschaikowsky-Interpretationen vorstellen, in denen die Nebenstimmen mehr zu ihrem Recht kommen. Vor allem die Holzbläser wirken ein wenig unterbelichtet. Doch die Entschiedenheit, mit der Honeck auf die klare Linie setzt, bringt den leidenschaftlichen Kern dieser Sinfonie zum Glühen. Hier wird eine große und bewegende Geschichte erzählt, von tiefer Verzweiflung und ein wenig Trost - und dann kurz vor Schluss einem energischen Ruck zum Positiven.
Das Publikum dankt mit langem, warmen Beifall, und die inzwischen entfesselten Gäste aus Pittsburgh antworten mit zwei lebendigen Zugaben. Dem lyrischen Intermezzo aus Bizets „Carmen“ folgt der drastische Galopp aus Aram Khatchaturians Schauspielmusik „Maskerade“ – mit einem ironischen Zitat aus Tschaikowskys Fünfter Sinfonie. Da gibt es am Ende dann doch etwas zu lachen.
Wenige Tage vorher hat sich am gleichen Ort ein ganz anderes Klangbild entfalten dürfen: Die junge amerikanische Cellistin Alisa Weilerstein (Jahrgang 1982) und das HR-Sinfonieorchester gastieren mit Joseph Haydns Violinkonzert Nr. 1 in C-Dur. Und man weiß nicht, worüber man sich bei der diesjährigen „Artist-in-Residence“ des Frankfurter Orchesters mehr freuen soll: Über die unnachahmliche Art, in der sie sich schelmisch und leidenschaftlich zugleich in den Geist dieser Musik vertieft? Uber das fein durchgehörte Zusammenspiel mit dem Orchester?
Am meisten vielleicht über die kleine Lektion, wie man mit einem Notentext umgeht. Details, über die andere großzügig weggehen, werden bei Alisa Weilerstein zum Ereignis: Da antwortet das Cello im 1. Satz nicht nur dem Orchester, sondern auch noch sich selbst - im Oktavabstand. Im 2. Satz wird eine lang ausgehaltene Sekundklausel des Cellos, während das Orchester führt, durch zartes Anschwellen zum musikalischen Ereignis. Und so wie die junge Cellistin den Beginn des 3. Satzes phrasiert, legt sie mit den Strukturen auch die musikalischen Energien frei. Technische Brillanz ist hier nicht Leistungssport, sondern Ausdruck von Leidenschaft.
Der anschließenden Aufführung von Gustav Mahlers 7. Sinfonie durch das HR-Sinfonieorchester unter Chefdirigent Paavo Järvi beeindruckt ungemein durch differenzierte und ausgewogene Klangentfaltung. Vor allem die spielerischen Momente der Musik wie die innere Demontage des Scherzos treten klar zu Tage. Emotional hingegen bleibt die Aufführung zu sehr in der Schwebe. Spätestens im Finale ist es eine Frage der Interpretation, was Mahler gemeint hat.