In der Musikgeschichte des vergangenen Jahrhunderts schnitt die Machtübernahme der Nazis in Deutschland eine ganze Entwicklungslinie brutal ab. Viele jener Komponisten, die aufgebrochen waren, die Oper aus der Dominanz des Wagnerschen Musikdramas zu lösen, wurden vertrieben. Statt in künstlerisches Neuland aufzubrechen, mussten sie um des nackten Überlebens willen ihre Heimat verlassen. Zemlinsky, Korngold, Weill oder Krenek … – die Liste ist lang.
Bei der Uraufführung von Franz Schrekers „Der singende Teufel“ am 10. Dezember 1928 an der Berliner Lindenoper unter Erich Kleiber gingen die Zwischenrufaktionen der Nazis noch in der Begeisterung des Premierenpublikums unter. „Der Schmied von Gent“ wurde 1932 nicht nur bei seiner Berliner Uraufführung angegriffen, sondern nach wenigen Vorstellungen aus dem Spielplan gepöbelt. Schließlich vertrieb man den seit „Der ferne Klang“ (1912) und „Die Gezeichneten“ (1918) höchst erfolgreichen, jüdischen Komponisten (übrigens unter Mithilfe seines „Kollegen“ Max von Schillings“) aus Hochschul-Amt und Akademie-Würden. Schlimmeres blieb ihm wohl nur erspart, weil er 1934 nach einem Schlaganfall und Herzinfarkt in Berlin verstarb.
Nach dem Ende der braunen Barbarei gelang es den so Verfemten weder an die Erfolge der Zwanziger Jahre anzuknüpfen, noch wenigstens im Repertoire rezipiert zu werden. Die Radikalität des programmatischen Bruchs und die elitäre Selbstbezogenheit der Darmstädter Avantgarde ließen nicht mal eine vorurteilsfreie Neubefragung der Werke zu. Die Nachkriegsjahrzehnte mit ihrer selbst zum Dogma erhobenen avantgardistischen Abkehr von aller Spätromantik und deren Erben boten keinen Spielraum für historische Gerechtigkeit. Dass Schreker einst so erfolgreich war wie Richard Strauss spielte keine Rolle mehr. Wenn Moderne, dann seriell. Und wenn schon nicht seriell, dann gleich Richard Strauss.
An dieser Wahrnehmungslücke versuchte schon Peter Ruzicka als Festspielintendant in Salzburg zwischen 2001 und 2006 bewusst mit einem allerdings ausgebremsten Kraftakt programmatisch anzuknüpfen.
Für die Oper in Bonn ist das eine ergiebige und mit umsichtiger Kontinuität von Bernhard Helmich bearbeitete Steilvorlage für die seit der Spielzeit 2013/14 etablierte Programmschwerpunkt-Reihe „Fokus 33 – Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben“. Im Rahmen dieses Projektes hat das Haus schon eine ganze Reihe von den Werken auf die Bühne gebracht und zur Diskussion gestellt, die nach 1933 oder ab 1945 aus den Spielplänen verschwanden.
Zum Ende der laufenden Spielzeit ließ man es jetzt in der ehemaligen Bundeshauptstadt mit Franz Schrekers „Der singende Teufel“ noch einmal so richtig krachen. Das etwas vertrackt wirkende Libretto zu seiner Überwältigungsmusik hat sich Schreker selbst geschrieben. Der titelgebende singende Teufel ist zwar eine Riesenorgel und tritt gar nicht auf. Aber mit dem inneren Kämpfen und äußeren Zwängen ausgesetzten Orgelbauer Amandus Herz hat er keine Handwerker-, sondern eine Künstlerfigur geschaffen, die wohl auch Züge von ihm trägt. Die Geschichte ist eigentlich mitten im Ringen von aufstrebendem Christentum und widerständigen Heiden im frühen Mittelalter angesiedelt. Der junge Orgelbauer soll die von seinem Vater begonnene gigantische Riesenorgel vollenden, die Pater Kaleidos für seinen Kampf gegen die Heiden einsetzen will. Kunst wird als Waffe instrumentalisiert und das in des Wortes doppelter Bedeutung. Den Angriff der Heiden vermag deren Einsatz dann tatsächlich zu stoppen, aber die von Amandus der Orgel verliehenen besonderen Töne der Versöhnung versagen. Der Pater lässt die schon auf die Knie gegangenen Heiden töten. Die Heidin Lillian, die Amandus vor dem Angriff gewarnt hatte (und zusammen mit Amandus Teil der opernunvermeidlichen Liebesgeschichte ist), steckt das Kloster in Brand. In den Flammen ertönen die Pfeifen des singenden Teufels zum letzten mal.
Dieser Plot ist mit ausschweifenden Diskursen durchzogen, die vom Ehrgeiz Schrekers zeugen, in seinem Werk letzte Fragen zu verhandeln. Dass die letzte (durchaus an den Wahnmonolog von Hans Sachs erinnernde) Reflexion des Chores mit dem Wort „bange Frage“ ohne Punkt, Frage- oder Ausrufezeichen endet, ist vielsagend; auch, dass ein Pilger auf Amandus’ Frage, ob es einen Gott gibt, klar antwortet „Wahrlich – es gibt keinen Gott!“, um sich dann die Gottesbilder der großen Religionen einzeln vorzunehmen. Die Heidin Alardis beschließt das mit einem „alles was lebt, ist Gott.“ Nach diesem Angebot zur Güte folgt dann freilich noch eine Art verklärender Liebestod, der Lilian und Amandus zusammenführt.
Beim Wort genommen sind die Angebote auch für eine szenische Interpretation bemerkenswert vielfältig. Julia Burbach (Regie) und Dirk Hofacker (Ausstattung) haben diese mittelalterliche, zwischen klösterlicher Idylle und Leverkühnschem Ringen um Künstlertum changierende, Geschichte mit dem Kampf zwischen Himmel und Hölle in deren Hinterhand in einen Raum verlegt, der auf den ersten Blick an eine klösterliche Bibliothek erinnert. Dessen Wände bestehen aus lauter Klappstühlen, die in die Senkrechte gebracht wurden. Die sich aus dem Schnürboden absenkenden Orgelpfeifen haben tatsächliche eine Anmutung von (modernen) Waffen. Die auf einem zerklüfteten Hügel angreifenden Heiden erinnern in ihren stilisiert ästhetischen Maskierungen an die höllischen Bilder a la Hieronymus Bosch.
Die Eskalation der walpurgisnachtartigen Feier der Heiden, bei der Lilian als Opfer für ein Jahr versteigert wird, ist ein atemberaubend entfesselter Ausbruch im Graben und auf der Bühne, der dem Dirigenten Dirk Kaftan und dem von Marco Medved einstudierten Chor einiges abverlangt! Und der phänomenal gelingt. Wobei auch hier auch hier das von Cameron McMillan sensibel in die Szene choreographierte Ballett einen entscheidenden Anteil an der Faszination der Szene hat.
So wie die Regie in ihrer stilisierten, dem Mittelalter entwundenen Überzeitlichkeit Raum für eigene Interpretationen lässt, so packt die musikalische Seite dieser Produktion. Die immer rhythmusgrundierte Musik mit ihrer ganz eigenen Färbung entfaltet suggestive Wirkung. Die durchweg exzellenten Protagonisten fügen dem mit ihren prägnanten Rollenporträts die Chance hinzu, sich mit den von Schreker zur Diskussion gestellten Fragen auseinanderzusetzen. Das gilt vor allem für den kraftvoll geschmeidigen Mirko Roschkowski als Künstler-Handwerker Amandus und für Anne-Fleur Werner als Lilian. Aber auch für Tobias Schnabel und Dshamilja Kaiser als Pater Kaleidos und als heidnische Alardis. Es gilt aber auch für Pavel Kudinov als den polternden, auf Lilian scharfen Ritter Sindbad von Fraß oder für Carl Rumstadt, dem als maurischem Pilger die Verneinung der Gottesexistenz vorbehalten ist. Und für alle anderen.
So wie sich Dirk Kaftan und das Beethoven Orchester als überzeugende Anwälte der Bonner Schreker-Ausgrabung erweisen, so regt die so ästhetische wie kluge Inszenierung des Werkes nicht nur zur Auseinandersetzung mit den verhandelten Thesen an, sondern rundet ein Gesamtkunstwerk zu einem Theatergenuss der Extraklasse abseits des Immergleichen.